Kassenärztechef Andreas Gassen hat die Aufhebung aller Corona-Beschränkungen zum 30. Oktober gefordert. "Nach den Erfahrungen aus Großbritannien sollten wir auch den Mut haben zu machen, was auf der Insel geklappt hat", sagte der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Samstagausgabe). Also brauche es jetzt eine klare Ansage der Politik: "In sechs Wochen ist auch bei uns Freedom Day. Am 30. Oktober werden alle Beschränkungen aufgehoben."
Das gebe jedem, der will, genug Zeit, sich noch impfen zu lassen. "Meine Wette: Dann sind wir Ende Oktober bei einer Impfquote von 70 Prozent oder noch höher, weil sehr viele Menschen das Angebot dann doch schleunigst annehmen werden." Gassen berief sich bei seinem Vorstoß auf die Erfahrungen in Großbritannien, wo Premier Boris Johnson schon Mitte Juli die Pandemie-Eindämmung weitestgehend beendet hatte.
"Dort ist das Gesundheitssystem nicht kollabiert. Das muss Mut machen, zumal das deutsche Gesundheitssystem deutlich leistungsfähiger als das britische ist und deutlich mehr Schwerkranke, die wir hoffentlich auch nicht haben werden, behandeln könnte", so der KBV-Chef. Ohne die Ankündigung eines `Freiheitstages` "werden wir uns endlos weiter durch diese Pandemie schleppen", sagte er. "Bei den Briten war das vielleicht noch wagemutig. Die Dänen sind dem Weg schon gefolgt." Auch dort sei kein Gesundheitsnotstand abzusehen.
"Also, worauf warten wir?" Der Kassenärztechef beklagte, die Corona-Politik folge seit anderthalb Jahren der Linie "Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht." Es gebe eine "German Angst", und man sei hierzulande "wohl viel zu lange einer Kontrollillusion aufgesessen". Deswegen sei der Kurswechsel für einige umso schwieriger. In Großbritannien seien wissentlich mehr Infektionen zugelassen worden. Das sei durchaus "forsch" gewesen, "aber im Augenblick gibt die Situation in England den Befürwortern des Freedom Day recht".
Bissig kommentierte Gassen jüngste Äußerungen von Charité-Virologe Christian Drosten, in Großbritannien werde die Corona-Lage deutlich früher als in Deutschland "endemisch", also weitgehend harmlos. "Die Aussagen von Christian Drosten sind schon bemerkenswert", sagte Gassen. "Jetzt konstatiert er - wie es andere Virologen schon vor einem Jahr gesagt haben -, dass sich Corona zu einer normalen Erkrankung abschwächt, wenn ein erheblicher Anteil der Bevölkerung `durchseucht` ist, so wie es für Großbritannien absehbar ist. Und weil Deutschland maximal vorsichtig war, bleibt Corona für uns noch länger bedrohlich, und deswegen müssen wir noch lange vorsichtig sein.
Im Ernst, diese Argumentation ist schon etwas eigenwillig." Die Quote der vollständig Geimpften liege auf der Insel mit gut 65 Prozent nur wenig höher als in Deutschland, gab der KBV-Chef zu bedenken. "Hier offenbart sich die ganze Widersprüchlichkeit der deutschen Corona-Politik", sagte er. Es sei ziemlich schnell klar gewesen, dass irgendwann so gut wie jeder Kontakt mit diesem Virus gehabt haben werde. "Und dass deswegen jeder Versuch, Corona durch Wegsperren der Leute auszuhungern, zum Scheitern verurteilt ist, siehe das Scheitern von Zero Covid in Australien."
Er sei "sehr zuversichtlich", dass durch eine "Freedom Day"-Ankündigung rasch eine Impfquote von 70 Prozent zu erreichen sei, sagte Gassen weiter. "Das wäre aber wohl auch ausreichend, da die Risikogruppen schon jetzt weitgehend durchgeimpft sind." Viel mehr als 70 Prozent dürften auch kaum zu erreichen sein, da etwa Kinder bis zwölf Jahre noch nicht geimpft werden könnten, das seien immerhin neun Millionen Menschen. Und ein Teil der Bevölkerung lehne das Impfen einfach ab. "Aber es werden auch deutlich mehr als vier Millionen Menschen sein, die offiziell genesen sind, die eine Infektion schon überstanden haben und immun sind, insgesamt wahrscheinlich eher mehr als zehn Millionen", schätzte der KBV-Chef.
"Vor diesem Hintergrund wäre eine Impfquote von 70 Prozent ein sehr guter und auch hinreichender Wert." Also müsse man da so schnell wie möglich hinkommen. Für diejenigen, die sich weiterhin nicht impfen lassen würden, bestehe zwar immer ein Restrisiko, auf der Intensivstation zu landen, etwa weil Vorerkrankungen nicht entdeckt worden seien, die bei einer Corona-Infektion zu schweren Verläufen führen. "Aber es ist nicht Aufgabe des Staates, jeden davor zu schützen, wenn längst ausreichend Impfstoff da ist", konstatierte Gassen.
Foto: Warteschlange im Sommer 2021 vor einem Berliner Club, über dts Nachrichtenagentur