Der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Ferdinand Kirchhof, fordert Volksabstimmungen in der EU. "Die Europäische Union ist vom Volk noch recht weit entfernt und pflegt weiterhin ein Programm der Eliten. Volksabstimmungen könnten hier einen kräftigen Schub an notwendiger Demokratisierung bringen.", schreibt Kirchhof in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (Donnerstagsausgabe). "Ein direktdemokratischer Kontakt zwischen den Vertragsorganen und dem Volk findet praktisch nicht statt."
Die unmittelbare Beteiligung des Bürgers an Unionsfragen, die jeden bewegen, würde nicht nur der demokratischen Legitimation einen neuen Impuls geben, sondern auch eine Identifikation des Bürgers mit "seiner" Union begründen.
Der heute nicht unberechtigte Vorwurf, Europa sei allein ein Projekt der politischen Eliten und seiner Bediensteten, verlöre an Gewicht, so Kirchhof. Ein weiteres Risiko für die Demokratie ergebe sich aus der Entfernung des Regierungshandelns vom Parlament in staatswesentlichen Entscheidungen.
"Die Bundesregierung vermeidet zunehmend eine Beteiligung des Parlaments; jenes wehrt sich dagegen erstaunlicherweise nicht", schreibt der Bundesverfassungsrichter. "Dem Parlament sind wieder seine prärogativen Entscheidungsbefugnisse zurückzugeben, damit dort die Politik in öffentlichem Diskurs, transparent und demokratisch bestimmt wird. Diese Moralisierung und Degradierung des politischen Gegners nimmt bei uns gerade überhand."
Sei es "Steuer- oder Sozialpolitik, Klimawandel oder Atomausstieg, Gentechnik oder Migration - alles wird sogleich aufs Podest der Moral gehoben."
Ein weiteres Risiko der Demokratie liege in der digitalisierten Steuerung der Gesellschaft statt ihrer demokratischen Selbstfindung durch das parlamentarische Gesetz, kurz: "die Regelung unseres Lebens durch Algorithmen statt durch parlamentarisch verantwortete Gesetze", so Kirchhof.
Foto: EU-Fahne, über dts Nachrichtenagentur