In einem Versuch, Einzelheiten eines Doppelmordes zu vertuschen, der im April in Hamburg verübt wurde, haben Behörden die Berichterstattung zensiert. Zudem durchsuchten sie die Wohnung eines Zeugen, der den Tatort mit seinem Mobiltelefon gefilmt hatte und eines Bloggers, der ein Video der Tat auf YouTube hochgeladen hatte.
Von Stefan Frank
Der Mord, der weltweit für Schlagzeilen sorgte, geschah am Morgen des 12. April. Der Täter Mourtala Madou, ein 33 Jahre alter illegaler Einwanderer aus dem Niger, erstach seine deutsche Exfreundin, die als Sandra P. identifiziert wurde, und die gemeinsame einjährige Tochter Miriam an der Hamburger U-Bahnstation Jungfernstieg. Das Kind starb sofort, seine Mutter im Krankenhaus. Der dreijährige Sohn der Mutter war Augenzeuge der Morde.
Laut der Staatsanwaltschaft handelte Madou – der erst vom Tatort floh, später aber die Polizei rief und bald darauf verhaftet wurde – aus "Wut und Rache", da er einen Tag zuvor einen Prozess um ein gemeinsames Sorgerecht (welches ihm einen unbefristeten Aufenthalt in Deutschland garantiert hätte) verloren hatte.
Später kam heraus, dass Madou über Monate hinweg gedroht hatte, Sandra P. und das Baby zu töten. Die Staatsanwaltschaft teilte mit, die Polizei habe die Vorwürfe der Frau untersucht, sei aber zu dem Schluss gekommen, die Drohungen seien "nicht ernst gemeint" gewesen. Daraufhin wurden die Ermittlungen eingestellt.
Ein halbes Jahr vor dem Doppelmord, im Oktober 2017, hatte ein Richter eine einstweilige Anordnung gegen Madou, die Sandra P. im Rahmen eines Gewaltschutzverfahrens erwirkt hatte (Kontaktverbot) aufgehoben, da er keine "Beweise" für die vorgebrachten Anschuldigungen sah. Ab da steigerte Madou seine Drohungen und kündigte an: "Ich werde unsere Tochter töten – und danach dich!"
Ein Detail der Morde, das der Öffentlichkeit nicht mitgeteilt wurde, ist, dass Madou anscheinend versucht hat, das Baby zu enthaupten.
Diese Einzelheit nennt ein Fahrgast, der kurz nach den Morden an der U-Bahn-Station eintraf: der aus Ghana stammende Daniel J, ein Gospelsänger in einer evangelikalen Hamburger Gemeinde.
Er filmte den Bahnsteig und die Gleise mit seinem Mobiltelefon, dazu kommentierte er, was er sah. In dem Video sieht man Polizeibeamte, die Zeugen befragen, und Rettungssanitäter von hinten, dazu eine Blutlache auf dem Boden. Daniel J. sagt auf Englisch: "Oh my God. It's unbelievable. Oh Jesus, oh Jesus, oh Jesus. They cut off the head of the baby. Oh my God. Oh Jesus."
Der Hamburger Blogger Heinrich Kordewiner, der das Video auf Facebook entdeckte, lud es herunter und dann auf seinen YouTube-Kanal hoch.
Wenige Tage später stand ein Team aus Staatsanwälten und Beamten der "Cybercrime"-Abteilung der Hamburger Polizei vor seiner Wohnungstür und präsentierte einen Durchsuchungsbeschluss. Es beschlagnahmte einen Computer, ein Mobiltelefon und andere Elektronik, angeblich, um "Beweise" für das "Verbrechen" zu finden, dessen er bezichtigt wurde: das Hochladen des Videos.
Kordewiner und seine Mitbewohnerin schilderten gegenüber Gatestone die Aktion, die um 6.45 Uhr morgens stattfand. Als sie sich geweigert hätten, die Tür zu öffnen, habe die Polizei sie gewaltsam geöffnet. Es seien auch Räumlichkeiten der Mitbewohnerin betreten worden, obwohl dies durch den Durchsuchungsbeschluss nicht gedeckt war. Die Mitbewohnerin schildert:
"Mit dem Polizisten an meiner Tür gab es ein Gespräch darüber, dass er nun auch nach SD-Karten suchen könnte, dabei fummelte er an den Büchern herum und sagte mir, ich solle mich entspannen – während er mit sechs weiteren Personen ungebeten in meiner Wohnung stand, und mir soeben angedeutet hatte, er könne die ganze Wohnung auf den Kopf stellen."
Laut dem Durchsuchungsbeschluss wird Kordewiner beschuldigt, "eine Bildaufnahme, die die Hilflosigkeit einer anderen Person zur Schau stellt, herstellt [sic!] oder übertragen und dadurch den höchstpersönlichen Lebensbereich der abgebildeten Person verletzt zu haben", ein angeblicher Verstoß gegen Paragraph §201a StGB.
Der sogenannte "Paparazzi-Paragraph" – der vom damaligen Justizminister und jetzigen Außenminister Heiko Maas auf den Weg gebracht wurde, der auch für das Internetzensurgesetz verantwortlich zeichnet – ist ein kaum bekannter und selten angewandtes Gesetz, das 2015 verabschiedet wurde. Es stellt es u.a. unter Strafe, Bildaufnahmen von jemandem in einer "hilflosen Lage" zu machen. Das Gesetz war damals dazu gedacht, Opfer von Verkehrsunfällen vor neugierigen Amateurfilmern zu schützen. Schon bei seiner Debatte im Jahr 2014 war es höchst umstritten. Der Presserat kritisierte die Einschränkung der Pressefreiheit.
Als der Deutsche Bundestag 2017 das "Netzwerksdurchleitungsgesetz" debattierte, war einer von zehn zur Anhörung geladenen Experten Ulf Bornemann von der Abteilung "Hass und Hetze" bei der Hamburger Staatsanwaltschaft. Die ehemalige Bundestagsabgeordnete und Bürgerrechtlerin in der DDR, Vera Lengsfeld, schrieb damals, Bornemann sei der Einzige gewesen, der den Gesetzesentwurf vorbehaltlos unterstützt habe. "Warum", habe er gefragt, "sollen Daten eines mutmaßlichen Hetzers unter Schutz stehen?"
In einer schriftlichen Stellungnahme pries Bornemann das Zensurgesetz: "Das Gesetz stellt ein klares Signal der Politik dar, gegen "Hasskriminalität" in sozialen Netzwerken vorzugehen." Ulf Bornemann gehörte auch zu dem Team, das Kordewiners Wohnung durchsuchte.
Der behauptete Grund für die Durchsuchung – die "Verletzung eines höchstpersönlichen Lebensbereichs" – ist fadenscheinig. Nur die Füße der getöteten Frau sind in dem Video zu sehen, und auch dies nur einen Augenblick lang. Wie das Hamburger Abendblatt richtig schrieb, handelt es sich um "verwackelte Bilder, die aus einiger Entfernung aufgenommen wurden und keine Identifizierung der Personen zulassen".
Die Website Welt online hingegen hat ein Video veröffentlicht, in dem die getötete Frau ausgiebig aus der Nähe zu sehen ist – was die Staatsanwaltschaft nicht auf den Plan gerufen hat. Der Hauptunterschied zwischen den beiden Videos ist offenbar der Kommentar zu der Enthauptung, den Daniel J. gesprochen hat. Das Verletzen von "Persönlichkeitsrechten" wäre demnach ein Vorwand.
Die "Enthauptung"
"Wir kommentieren dieses Gerücht nicht", sagte Oberstaatsanwältin Nana Frombach, als sie von Gatestone auf die Enthauptung angesprochen wurde. Sie war lediglich zu dem Eingeständnis bereit, das Kind habe "schwere Halsverletzungen" erlitten. Als Gatestone sie darauf hinwies, dass Paragraph 201a schon deshalb nicht zur Anwendung kommen könne, da in dem Video niemandes Gesicht zu sehen sei, antwortete sie, darüber sei noch zu befinden; die Durchsuchung beruhe auf einem "Anfangsverdacht".
Gatestone wies dann darauf hin, dass Kordewiner das Video nicht etwa anonym hochgeladen hatte (was ein Leichtes gewesen wäre), sondern auf seinem YouTube-Kanal, unter seinem Namen. Dadurch erscheint der angegebene Zweck der Wohnungsdurchsuchung – "Beweise" zu finden – nicht nur unverhältnismäßig, sondern völlig unnötig. Frombach sagte, dass sie sich zu "Einzelheiten eines laufenden Verfahrens" nicht äußere, dass sie aber "versichern" könne, dass ein Richter die Durchsuchung genehmigt habe.
Wie kann ein Journalist unter einer solchen Zensur noch Bericht erstatten? Wäre es illegal, den Ort eines Terroranschlags zu filmen? Frombach sagte, das könne sie "nicht sagen". "Ich kann nur über konkrete Fälle urteilen, nicht über welche, die in der Zukunft liegen."
Die libertäre Website Achse des Guten berichtete zuerst über die Wohnungsdurchsuchung. Zwei Tage später schrieb das Hamburger Abendblatt:
"Die Staatsanwaltschaft Hamburg geht rabiat gegen einen Blogger vor, der Aufnahmen von der Tragödie am Jungfernstieg veröffentlichte ... Grundlage für die Durchsuchung ist der Paragraf 201a, den der Presserat und Journalistenverbände in langen Stellungnahmen als problematisch einstuften im Blick auf eine freie Berichterstattung, die von der im Grundgesetz verankerten Pressefreiheit gedeckt ist."
Das Abendblatt kritisierte "die schwammige Formulierung" des Gesetzes "und die noch schwammigere Auslegung der Hamburger Justiz". "Denn der Paragraf sagt aus, dass Bildnisse von Personen nicht hergestellt werden dürfen, die hilflos sind. Allerdings sind auf den Aufnahmen des Handyfilmers keine solchen Menschen zu sehen oder zu identifizieren."
Laut dem Abendblatt hätten die Wohnungsdurchsuchungen bei dem Blogger und bei Daniel J. "im Sicherheitsapparat" für "Verwunderung" gesorgt: Die beteiligten Staatsanwälte seien "ganz heiß auf den Fall" gewesen und schieße "mit Kanonen auf Spatzen". "Zudem wunderte man sich, wie schnell es einen Durchsuchungsbeschluss gab, während man im Alltag selbst bei Verbrechenstatbeständen mit manchmal hohen Hürden zu kämpfen hat."
In einem begleitenden Kommentar nannte Abendblatt-Redakteur Matthias Iken die Hausdurchsuchung "töricht", da sie die "Verschwörungsmythen der Rechten stützt". "Wo", fragte er, "fangen die Verbote an? Und wo hören sie auf?"
Unterdessen ist das inkriminierte Video auf YouTube für Benutzer, die die deutschsprachige Benutzeroberfläche wählen, nicht mehr zugänglich – für alle, die eine andere Sprache wählen, hingegen immer noch; zudem ist es weiterhin auf ausländischen Websites zu finden.
Schuss geht nach hinten los
Sollte es tatsächlich die Absicht der Verfolgungbehörde gewesen sein, die Information über die Enthauptung geheim zu halten, dann ging der Schuss nach hinten los. Durch die Berichte über die Wohnungsdurchsuchung haben Tausende das Video gesehen und Hunderttausende von dem missglückten Zensurversuch erfahren.
Schlimmer noch für die Möchtegernzensoren war, dass sie unabsichtlich eben jenes Detail preisgaben, das sie der Öffentlichkeit verheimlichen wollten. Denn im Durchsuchungsbeschluss – Kordewiner erhielt eine Zweitschrift – enthält einen detaillierten Bericht über die Morde.
Madou, heißt es darin, habe "aus Wut wegen der tags zuvor erfolgten Ablehnung des beantragten gemeinsamen Sorgerechts für seine Tochter und um die Kindsmutter zu bestrafen, seiner in einem Kinderbuggy sitzenden einjährigen Tochter in Tötungsabsicht und zur Durchsetzung seiner Macht- und Besitzansprüche mit einem unvermittelt aus seinem mitgeführten Rucksack gezogenen Messer von hinten einen Stich in den Bauch versetzt und ihr anschließend den Hals nahezu vollständig durchtrennt".
Die Staatsanwaltschaft untersteht dem Hamburger Senat, der von SPD und Grünen gebildet wird. Der grüne Justizminister Till Steffen und sein Ministerium stehen seit Jahren im Mittelpunkt zahlreicher Skandale. Dazu gehört etwa, dass zahlreiche mutmaßliche Mörder aus der Untersuchungshaft entlassen werden mussten, weil Prozesse zu lang dauerten. 2016 verhinderte Steffen, dass Fahndungsfotos des Terroristen Anis Amri in sozialen Netzwerken veröffentlicht werden konnten, weil er fürchtete, dass Bilder eines terrorverdächtigen Dschihadisten dazu führen könnten, dass auf der Seite der Polizei in Kommentarfeldern "beleidigende oder volksverhetzende Inhalte verbreitet" werden könnten.
Zensur im Parlament
Der Hamburger Senat versucht immer noch, die Enthauptung zu verheimlichen. Das wurde klar, als im Mai Bürgerschaftsabgeordnete der AfD eine parlamentarische Anfrage über die Wohnungsdurchsuchung und Einzelheiten des Mordfalls einbrachten. Unter anderem wollten sie wissen, ob das Kind enthauptet worden sei. Die Kanzlei der Bürgerschaft weigerte sich entgegen ihrer verfassungsmäßigen Pflicht, die Frage zu beantworten. Außerdem zensierte sie die Fragen, indem sie ganze Sätze schwärzte. Die Tageszeitung Die Welt schrieb: "Dass die Texte in Anfragen und die Fragen ohne Rücksprache geschwärzt werden, ist ein so gut wie nie vorkommender Vorgang."
Gatestone kontaktierte Alexander Wolf, den Abgeordneten, der die Anfrage gestellt hatte, um herauszufinden, was genau zensiert wurde, und erhielt daraufhin den Text der Anfrage (erste beiden Seiten von links) sowie die Antwort des Senats (Seiten 3,4 und 5) in der Teile der Fragen zensiert sind. Jeglicher Hinweis auf eine Enthauptung, die womöglich stattgefunden haben könnte, wurde geschwärzt, zudem der Link zu dem Artikel, in dem zuerst über die Enthauptung und die folgenden Wohnungsdurchsuchungen berichtet worden war. Wolf sagte Gatestone:
"Sowohl Innensenator Grote als auch der zuständige Staatsanwalt antworteten zuletzt in der Sitzung des Innenausschusses vom 15. Mai auf mehrfache direkte Nachfrage unseres innenpolitischen Sprechers Dirk Nockemann nach der Art und Weise der Halsverletzung sehr ausweichend und unterstellten ihm als Fragesteller Pietätlosigkeit – und zwar in einer Art und Weise, die meines Erachtens auch bei den anderen Abgeordneten augenscheinlich Unwillen gegen den Fragesteller hervorrufen sollte. Ersichtlich soll das Thema erstickt werden."
Gatestone kontaktierte auch die Sprecher der anderen Oppositionsparteien: Dennis Gladiator von der CDU und Anna von Treuenfels-Frowein von der FDP. Treuenfels-Frowein antwortete:
"Die Öffentlichkeit hat selbstverständlich das Recht auf Information. Für uns als Rechtsstaatspartei steht allerdings fest, dass Persönlichkeitsrechte auch nach dem Tod gelten. Vor diesem Hintergrund und auch mit Blick auf die Hinterbliebenen dieser schockierenden Gewalttat halten wir die Entscheidung der Bürgerschaftskanzlei für angemessen und gerechtfertigt, Passagen der Senatsanfrage zu schwärzen. Es besteht aus unserer Sicht zum jetzigen Zeitpunkt nicht die Notwendigkeit, Einzelheiten der Tat öffentlich zu machen."
Gladiator antwortete gar nicht, auch nicht auf wiederholte Nachfrage.
Warum die Enthauptung geheim gehalten werden soll, darüber kann jeder selbst mutmaßen. Klar geworden ist, wie leicht die deutschen Behörden die Nachrichten zensieren und Blogger bestrafen können, die unerwünschte Informationen verbreiten. Ihnen steht ein großer Werkzeugkasten an Gesetzen zur Verfügung.
Es scheint sie nicht zu stören, dass das Gesetz, auf das sie sich berufen, explizit besagt, dass es nicht für die "Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens" gilt. Die Staatsanwaltschaft argumentiert, der Doppelmord – über den unter anderem in Frankreich, Indien, Pakistan, Südafrika und den Vereinigten Staaten berichtet wurde – sei kein "Vorgang des Zeitgeschehens".
"Für die Hamburger Justiz", schrieb das Hamburger Abendblatt, "ist der Doppelmord vom Jungfernstieg eine Beziehungstat, für die kein öffentliches Interesse zu bestehen hat".