Medien beschwören das große Chaos nach Brexit. Die Börsen tragen es derweil mit Fassung, zeigen sich sogar leicht positiv. Ist also alles halb so schlimm? Aktiemärkte sind normalerweise der beste Indikator.
von Sven Weisenhaus
Was wurde nicht bereits alles über das Chaos berichtet, das über uns alle hereinbrechen wird, wenn der ausgehandelte Austritts-Vertrag abgelehnt wird und es daraufhin in 72 Tagen möglicherweise zu einem ungeordneten Brexit kommt.
Einige CFD-Broker hatten im Vorfeld der gestrigen Abstimmung sogar die Margin-Anforderungen erhöht, um sich gegen die offenbar erwarteten Kursverwerfungen zu wappnen. Doch schaut man nun auf die Kursverläufe diverser Märkte, dann muss man meist mit der Lupe nach irgendwelchen Kursreaktionen suchen. Daher stellt sich nun natürlich die Frage, warum ein immer wahrscheinlich werdender „harter Brexit“ die Märkte nicht mehr beunruhigt.
Regierungen, Notenbanken und Unternehmen hatten genügend Zeit
Die Antwort darauf hatten wir schon 2016 geliefert, als dass Thema tatsächlich noch zu extremen Kursschwankungen führte: Durch das ursprüngliche Brexit-Referendum wurde ein mehrjähriger Verhandlungsprozess in Gang gesetzt. Sowohl Regierungen als auch Notenbanken sowie die Unternehmen hatten genügend Zeit, sich auf das Schlimmste vorzubereiten. Schon alleine deshalb ist kein allgemeines Chaos zu erwarten.
Aber selbst wenn es in einigen Bereichen zu Engpässen kommen sollte, weil man vielleicht nicht alle Details beachtet hat oder sich schlicht nicht vorstellen konnte, dass es tatsächlich zum harten Brexit kommt – schon im Sommer 2016 hatte die London School of Economics die möglichen Verluste für die verbleibenden EU-Länder auf eine Größenordnung von lediglich 0,1 bis 0,3 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) geschätzt (siehe dazu auch Börse-Intern vom 14.06.2016).
Ähnlich wie beim Handelsstreit sind also das Getöse und die Angstmacherei deutlich größer, als es der tatsächliche realwirtschaftliche Schaden vielleicht sein wird. Das haben die Marktteilnehmer inzwischen längst realisiert. Und ganz abgesehen davon erleben wir aktuell natürlich auch wieder den typischen Gewöhnungseffekt. Die Märkte haben das Thema in den vergangenen zweieinhalb Jahren schon etliche Male durchgekaut. Zudem wurde das gestrige „Nein“ erwartet.
Die Stimmung der Anleger ist kurzfristig entscheidend
Damit zeigt sich wieder einmal, dass die Stimmung der Anleger kurzfristig für die Kursbewegungen an den Märkten entscheidend ist. Längerfristig sind aber immer die fundamentalen Entwicklungen kursbestimmend.
Rund um das ursprüngliche Brexit-Referendum im Sommer 2016 war es sowohl in den Stimmungsindikatoren (Einkaufsmanagerindizes etc.) als auch an den Aktienmärkten zu scharfen Einbrüchen gekommen. Doch einige Wochen später waren diese vollständig aufgeholt und nur noch kleine Dellen in den übergeordneten Trends. Werfen Sie doch dazu einmal einen Blick auf den EUR/USD.
Aktuell befindet sich der Euro vielleicht gegenüber dem US-Dollar in einem Abwärtstrend, doch steht der Wechselkurs derzeit immerhin noch auf dem Niveau von 2003 (grüner Pfeil). Und von den Brexit-Problemen ist in diesem Chart kaum etwas zu erkennen.
Oder werfen Sie einen Blick auf den Euro STOXX 50 (folgender Chart). Auch hier ist eine Abwärtstendenz zu erkennen (rote Linie), aber ebenso seit dem Finanzkrisentief auch eine Aufwärtstendenz (grüne Linie). Und das Brexit-Referendum vom 23.06.2016 markierte sogar ein markantes Tief (vertikale Linie).
Wer weiß, vielleicht wird es ja auch mit dem Brexit wieder zu einer Trendwende kommen?! Bei einer Dividendenrendite von aktuell 4,2 % im Euro STOXX 50 (siehe gestrige Börse-Intern) würde mich dies nicht wundern.
Inzwischen gewinnt das Thema zwar wieder an Brisanz, weil der Brexit-Termin am 29. März näher rückt und eine Lösung nicht in Sicht ist, doch die Stimmung der Anleger ist nun eine andere. Die Medien berichten wieder verstärkt über ein mögliches Chaos, doch die Märkte haben längst begriffen, dass sich die Wirtschaft häufig viel stabiler entwickelt als befürchtet und man sich auf solche Ereignisse einstellen kann. Diverse Industriebetriebe haben ihre Produktion angepasst, Lieferketten umorganisiert und/oder die Lagerhaltung angepasst.
Fazit
Langwierige Entwicklungen, wie eine sich abkühlende (chinesische) Wirtschaft oder monate- bzw. jahrelange Vorbereitungen des Brexits, haben nur stimmungsgetrieben kurzfristige Auswirkungen auf die Kurse. Langfristig setzen sich die tatsächlichen fundamentalen Auswirkungen durch. Und häufig erreichen die Kurse ein Tief, wenn „die Nacht am dunkelsten“ scheint und quasi alle auf „Verkaufen“ eingestellt sind.
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