Das globale Finanzsystem ist durch die lockere Notenbank-Geldpolitik der vergangenen zehn Jahre in eine Lage gebracht worden, aus der es mit Hilfe klassischer Reformpolitik keinen Ausweg mehr gibt.
von Ernst Wolff
Im Dezember 2018 fielen die Kurse an der New Yorker Aktienbörse so stark wie in keinem Dezember seit der Großen Depression. Der rasante Abwärtstrend sandte Schockwellen durch das globale Finanzsystem, die Welt schien plötzlich vor der nächsten großen Finanzkrise zu stehen.
Dann kam es zwischen Weihnachten und Neujahr zu einer dramatischen Kehrtwende: Die Kurse begannen eine rasante Aufholjagd und bescherten dem Dow Jones einen Börsenjanuar, wie man ihn seit Jahrzehnten nicht gesehen hat.
Das dramatische Auf und Ab war kein Zufall: Der Einbruch im Dezember war das Ergebnis der strategischen Umkehr der FED, die 2018 begonnen hatte, die Geldzufuhr ins System zu stoppen, ihm sogar Geld zu entziehen und die eigene Bilanz zu bereinigen.
Die Umkehr nach Weihnachten dagegen war auf zwei Reaktionen aus der Politik und der Bankenwelt zurückzuführen: Zum einen griff in den USA das 1986 unter Ronald Reagan geschaffene Plunge Protection Team, das über eine der größten Schwarzen Kassen der Welt verfügt, auf Geheiß von Finanzminister Mnuchin in die Märkte ein.
Zum anderen sendete die Federal Reserve als weltweite Nr. 1 unter den Zentralbanken ein klares Signal aus: Sie wird ihre Abkehr von der Politik des billigen Geldes nicht - wie noch im Dezember großspurig angekündigt – „auf Autopilot“ fortsetzen, sondern an die Bedürfnisse der Märkte „anpassen“ und die Anfang Dezember angekündigten Zinserhöhungen vorerst aussetzen.
Die FED kapituliert
Im Klartext heißt das: Die FED erkennt an, dass die Finanzmärkte in den vergangenen zehn Jahren so süchtig nach frischem Geld aus dem Bankensektor geworden sind, dass sie einen Entzug nicht mehr verkraften.
Diese Erkenntnis aber schafft ein riesiges Problem, denn genau diese Geldpolitik der FED und der übrigen Zentralbanken seit der Krise von 2007/2008 – Gelddrucken und Zinssenkungen – hat riesige Blasen an den Anleihen-, Aktien- und Immobilienmärkten erzeugt, die nach wie vor zu platzen drohen und das Finanzsystem in seiner Gesamtheit existenziell gefährden.
Was aber wird nun geschehen?
Niemand kann voraussagen, welche Entscheidungen die FED und die anderen Zentralbanken in den kommenden Monaten treffen werden. Da es aber nur drei verschiedene Möglichkeiten gibt, hier ein kurzer Blick darauf, wie sie aussehen und welche Folgen sie haben könnten:
1. Abwarten
Die Zentralbanken tun einfach nichts tun und warten ab. Die Folge: Nach einer kräftigen Erholung an den Märkten, die ja bereits in vollem Gang ist, werden diese in naher Zukunft wieder ins Stocken geraten und erneut fallen. Da diese Entwicklung mit einer derzeit einsetzenden weltweiten Rezession zusammenfällt, könnten die Kurse schon bald wieder kräftig abstürzen.
Angesichts der erheblichen sozialen Konsequenzen solcher Kurseinbrüche (zum Beispiel gewaltige Ausfälle bei Pensionsfonds und Rentenkassen) würde die Politik die Zentralbanken mit Sicherheit drängen, erneut einzugreifen und eine weitere Runde des „Quantitative Easing“ – also des Gelddruckens – zu beginnen. Sollten sich die Zentralbanken diesem Ansinnen verweigern, dürfte die Lage rasch brenzlig werden.
2. Den Märkten nachgeben
Die Zentralbanken geben den Märkten beim nächsten Abwärtstrend nach, entscheiden sich für ein erneutes Quantitative Easing (weitere Geldspritzen) und verzichten darauf, die eigenen Bilanzen weiter zu bereinigen. Damit aber würden sie einerseits ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen, was viele Anleger in sichere Häfen wie das Gold treiben und damit eine überaus unerwünschte Nebenwirkung erzielen würde.
Vermutlich würden die Märkte dennoch zu weiteren Höhenflügen ansetzen, allerdings mit fatalen Begleiterscheinungen: Es würde zu einer weiteren Ausdehnung sämtlicher Blasen, insbesondere der internationalen Kreditblase, kommen. Die Risiken im System würden weiter steigen und es bedürfte nur eines unerwarteten Großereignisses, um das ganze System wie ein Kartenhaus einstürzen zu lassen.
Ein solches Großereignis könnte in Europa zum Beispiel der Zusammenbruch der Deutschen Bank, eine Kette von Zusammenbrüchen überschuldeter italienischer Banken oder auch die Staatspleite eines Landes sein, wobei alle drei Ereignisse unabsehbare Konsequenzen im Bereich der Derivate hätten.
3. Die 1929er Variante
Die dritte Möglichkeit bestünde darin, dass die Zentralbanken etwas tun, was zurzeit niemand von ihnen erwartet: Dass sie den Märkten erneut Geld entziehen und zudem die Zinsen weiter erhöhen. Das stünde zwar im Widerspruch zu allen Signalen aus der US-Politik und der US-Bankenwelt, sollte aber auch nicht von vornherein ausgeschlossen werden.
Eine solch radikale Maßnahme hat 1929 immerhin zum bisher größten internationalen Börsencrash und zur Großen Depression geführt - und die hat den Großbanken damals die Möglichkeit gegeben, 10.000 kleinere Banken zu schlucken.
Träfe die FED eine solche Entscheidung, wäre sie mit Sicherheit mit den größten Instituten der Wall Street abgesprochen, so dass diese sich rechtzeitig darauf vorbereiten könnten.
Ein solches Vorgehen würde auf jeden Fall schlimmere Folgen als 1929 haben, da die Risiken und auch die internationale Vernetzung heute ungleich größer sind als damals. Vor allem aber würde sie gewaltige soziale Konsequenzen nach sich ziehen: Handelsströme und Geldströme würden zusammenbrechen, Renten würden nicht mehr ausgezahlt, es käme zu Versorgungsengpässen, Plünderungen und Volksaufständen.
Auf jeden Fall wäre – wie der Gelbwesten-Protest in Frankreich bereits zeigt - mit gewaltiger staatlicher Repression, mit Polizei- und Militäreinsätzen gegen Demonstranten und dem Erlass von Notstandsverordnungen und Kriegsrecht zu rechnen.
Wie gesagt: Niemand kann momentan voraussagen, für welche der drei Varianten sich die Zentralbanken entscheiden werden. Fatal ist nur, dass alle drei eines beweisen: Das globale Finanzsystem ist durch die lockere Geldpolitik der vergangenen zehn Jahre in eine Lage gebracht worden, aus der es mit Hilfe klassischer Reformpolitik keinen Ausweg mehr gibt.