Einige Aktien (z.B. Tesla, Amazon, Netflix, Apple) haben astronomische Höhen erklommen und haben teils Billionen-Bewertungen. Ist die Situation an den Börsen mit der Zeit kurz vor Zusammenbruch des "Neuen Marktes" (2000) vergleichbar?
von Sven Weisenhaus
Zu der Börse-Intern von vorgestern, in der es um einen Vergleich aktueller Entwicklungen mit denen der „Neuer Markt“-Blase ging, haben mich einige Leser-Mails erreicht. Eine lautete zum Beispiel wie folgt:
„Sehr geehrter Herr Weisenhaus,
vielen Dank für diesen interessanten Artikel. Ich bin wie Sie der Meinung, dass angesichts der gegenwärtigen Situation, sprich der Corona-Krise, die Bewertungen sehr hoch sind. Aber ich sehe auch, dass die Aussicht auf "jemals" wieder steigende Zinsen sehr gering ist. Könnte dies nicht dafür sorgen, dass die längst überfällige Korrektur bzw. ein Angleichen der Preise von Aktien an die Realität wesentlich sanfter ausfallen könnte, als das nach der DotCom-Blase der Fall war?
Mit freundlichen Grüßen“
Noch keine neue Blase am Aktienmarkt
Ich möchte dies zum Anlass nehmen, klar zu stellen, dass ich aktuell keine Blase am Aktienmarkt sehe, wie wir sie zur Jahrtausendwende hatten. Die Entwicklungen und Situationen von damals und heute sind nicht in allen Aspekten die gleichen. S
o haben die Bewertungen, gemessen zum Beispiel am Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV), noch längst nicht das irrsinnige Niveau von damals erreicht, zumindest nicht in der Breite des Marktes. Vergleichbar sind die Übertreibungen lediglich bei einigen Technologieaktien.
Ein großer Unterschied besteht auch darin, dass die Aktienkurse zur Jahrtausendwende in eine Übertreibung geraten waren, weil die Anfänge des Internetzeitalters zu einer Goldgräberstimmung geführt hatten. Und erst durch das Platzen der Blase ist damals eine Krise entstanden.
Heute werden dagegen Technologie- und einige andere Aktien gehypt, weil die Nachfrage nach deren Produkten durch eine bereits vorhandene Krise gestiegen ist. Allerdings hat das inzwischen auch zu einer Goldgräberstimmung bei diversen Aktien geführt.
Die Zinssituation und die Geldpolitik sind heute auch andere als zu Zeiten des Neuen Marktes. Und genau deshalb gehe ich DERZEIT nicht davon aus, dass wir bald einen ähnlich starken und langen Abwärtstrend am Aktienmarkt erleben werden, wie wir ihn in den Jahren 2000 bis 2003 erlebten.
Denn in der Corona-Krise mangelt es schlicht an Anlagealternativen. Vorstellbar ist aber durchaus, dass die Aktienindizes noch einmal nah an die Tiefs vom März heranlaufen.
Einen neuen Bärenmarkt sollte man nicht ausschließen
Ich schließe allerdings einen neuen Bärenmarkt, der über mehrere Jahre andauern kann, nicht aus. Denn die aktuelle Krise kann sich noch sehr lange hinziehen, wenn ein Impfstoff auf sich warten lässt und weitere Infektionswellen über den Globus schwappen.
Viele Arbeitsplätze sind zwar im Rahmen der ersten Welle nur temporär, viele aber auch auf längere Sicht verloren. Das macht die Rückkehr auf das Vorkrisen-Niveau schwer. Zudem hatte ich gestern noch einmal die Verschuldung angesprochen, die deutlich gestiegen ist und zukünftige Investitionen bremst. Auch dies wird das Wachstum der Weltwirtschaft verlangsamen.
Eine Abwärtsspirale ist denkbar
Und sollte auf diese Lage eine zweite große Infektionswelle treffen, könnte das die Weltwirtschaft in eine erneute und dann wohl auch noch tiefere Rezession stürzen. Denn in einem solchen Fall würden Verbraucher und Unternehmen, was ihr Konsum- bzw. Investitionsverhalten angeht, noch sparsamer sein müssen.
Dadurch würden weitere Arbeitsplätze verloren gehen und die Gewinne der Unternehmen noch stärker sinken. Die Aktienkurse würden in der Folge fallen, das Vermögen der Welt sinken, was wiederum zu Konsumrückgang, einer höheren Sparquote und damit weiter sinkenden Unternehmensgewinnen führt.
Diverse Unternehmen wären dann nicht mehr in der Lage, ihre Kredite zu bedienen. Diese könnten ausfallen, womit die Gefahr einer Kreditkrise wie 2007 steigt, die sich schnell zu einer neuen Bankenkrise und letztlich einer Finanzkrise wie 2008/2009 ausweiten könnte. Eine Abwärtsspirale wäre im Gange.
Möglichkeiten der Notenbanken sind begrenzt
Und die Möglichkeiten der Notenbanken, dies zu verhindern, sind begrenzt, auch wenn die Währungshüter naturgemäß Gegenteiliges behaupten, um Optimismus zu versprühen und die Marktteilnehmer bei Laune zu halten.
Doch klar ist: Wenn die Notenbanken zu viel Geld drucken und sie den Bogen überspannen, werden die Investoren das Vertrauen in Währungen verlieren. Die Katastrophe für das (weltweite) Finanzsystem wäre perfekt. Soweit werden es die Notenbanken vermutlich nicht kommen lassen. Und die Begrenzung an weiterer Unterstützung durch die Notenbanken könnte die Aktienkurse zusätzlich belasten.
Cash kann eine Anlagealternative sein
Auch ein Mangel an Anlagealternativen wird dem Aktienmarkt dann nicht mehr helfen. Denn wenn die Aktienkurse immer weiter fallen, ist Cash durchaus eine alternative Anlageform.
Insbesondere dann, wenn wir aufgrund von schwacher Konsumnachfrage sogar in deflationäre Tendenzen kommen, die es ja auch jüngst sogar schon gegeben hat. Denn bei Deflation hat Cash keinen Wertverlust, sondern formal sogar einen Wertgewinn.
Ein Beispiel für eine langjährige Baisse am Aktienmarkt ist Japan, wo die Aktienkurse trotz extrem niedriger Zinsen gefallen sind.
Aber man sollte nun nicht gleich sein Depot räumen, aus Angst, dass dieses Horrorszenario Wirklichkeit wird. Denn es gilt, erst einmal abzuwarten,
- wie sich das Infektionsgeschehen entwickelt,
- wie die Forschung an Impfstoffen vorankommt,
- wie die Wirtschaft auf die Konjunkturmaßnahmen der Regierungen und die Liquidität der Notenbanken reagiert und
- wie sich die Aktienmärkte weiterentwickeln.
Immer schön Schritt für Schritt
An der Börse sollte man immer Schritt für Schritt vorgehen. Aktuell rechne ich mit einer erneuten Korrekturwelle am Aktienmarkt. Gestern hat es erste Anzeichen dafür gegeben, dass diese begonnen haben könnte – ich erinnere an den bearishen Bruch einer Aufwärtstrendlinie im Dow Jones und an einen möglichen Bear-Keil im DAX. Bestätigt haben sich diese Signale aber noch nicht.
Heute wurde im frühen Handel zwar das bearishe Signal im Dow Jones zunächst bestätigt, dann kam es aber mit Eröffnung des offiziellen Börsenhandels in den USA zu einer Kurserholung.
(Quelle: Comdirect)
Dabei wurde die untere Aufwärtstrendlinie (grün im Chart) noch nicht attackiert, stattdessen aber die gebrochene von unten angelaufen. Und wenn der Dow Jones diese zurückerobern kann, stehen eher wieder die Abwärtstrendlinien (rot) unter Druck und die Bullen könnten wieder einen Ausbruchsversuch nach oben starten.
Auch im DAX wurde ein bearishes Signal noch nicht bestätigt (siehe gelber Kreis im folgenden Chart). Der Index ist zwar gestern und heute mit den Tageskerzen jeweils schon unter die Aufwärtslinie des Trendkanals (dick grün) geraten, die untere Linie des möglichen Bear-Keils (blau) wurde aber noch nicht unterschritten.
Insofern ist aktuell lediglich erhöhte Vorsicht angebracht. Erst wenn weitere Kursverluste folgen und es im Dow Jones zu einem Bruch der unteren Aufwärtstrendlinie und im DAX zum bearishen Ausbruch aus dem Keil kommt, sollte man erste Maßnahmen treffen. Man könnte dann einige Gewinne mitnehmen oder das Depot mit kleinen Short-Positionen absichern. Fallen die Kurse weiter, kann man diese Aktivitäten intensivieren. Und dabei gilt es, die Dynamik und das Ausmaß der Abwärtsbewegung zu beobachten.
Fazit
Die Übertreibung in einigen Aktien und andere Entwicklungen an den Märkten (Kleinanleger eröffnen massenhaft neue Depots) erinnern an die „Neuer Markt“-Blase. Und die Corona-Krise hat das Potential, die Wirtschaft nachhaltig zu belasten. Beides in Kombination könnte in einem neuen Bärenmarkt enden. Doch sollte man erst entsprechend handeln, wenn sich die Anzeichen dafür auch tatsächlich verdichten.
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