Ärztepräsident Klaus Reinhardt hält Einschränkungen für Ungeimpfte nur bei einer drohenden Überlastung des Gesundheitswesens für vertretbar. "Sollen die Corona-Infektionszahlen im Herbst weiter deutlich zunehmen und die Zahl der schweren Verläufe entgegen aller Erwartungen stark ansteigen, kann es gerechtfertigt sein, einige Angebote des öffentlichen Lebens an einen Impfnachweis oder den Nachweis einer überstandenen Corona-Infektion zu knüpfen", sagte der Präsident der Bundesärztekammer dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland".
Solche Maßnahmen ließen sich aber nur dann rechtfertigen, wenn die Sicherstellung der stationären Versorgung von Covid-19-Erkrankten, aber auch von anderen Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen "akut gefährdet" sein sollte. Reinhardt fügte hinzu: "Es darf nicht um Drohkulissen und Strafmaßnahmen für Impfunwillige gehen, sondern allein darum, eine erneute Dauerbelastung unseres Gesundheitswesens zu verhindern." Alles andere wäre nur "Wasser auf die Mühlen der Impfgegner", so der Ärztepräsident.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und andere Unionspolitiker hatten zuletzt dafür plädiert, Ungeimpften den Zutritt zu Sport- oder Kulturveranstaltungen zu verwehren, wenn es zu einer starken vierte Welle kommen sollte. Reinhardt bekräftigte seine Forderung, angesichts der wachsenden Impfquote die Infektionszahlen nicht mehr als alleinigen Indikator zur Einschätzung der Pandemielage zugrunde zu legen.
Erfahrungen aus anderen Ländern mit hoher Impfquote, wie zum Beispiel Großbritannien und Israel, zeigten, dass zunehmende Infektionszahlen nicht zwangsläufig zu einem Anstieg von schweren Verläufen und Hospitalisierungen führen müssten. Je mehr Menschen geimpft seien, vor allem aus den besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen, desto größer sei der Schutz vor schweren Verläufen, so Reinhardt. "Notwendig ist ein deutlich komplexerer Bewertungs- und Prognoseindex, in dem neben der Zahl der Neuinfektionen vor allem die Hospitalisierungsrate, die Impfquote und die Altersstruktur der Infizierten einfließen muss", mahnte der Mediziner.
Der Ärztepräsident fordert zudem einen Ausbau der Impfkampagne. Es müssten die noch nicht erreichten Bevölkerungsgruppen gezielt angesprochen werden. "Gerade der Altersgruppe der 20- bis 50-Jährigen muss verdeutlicht werden, dass eine Impfung nicht nur für sie persönlich sinnvoll ist, sondern auch ein Zeichen der Solidarität mit denjenigen darstellt, die sich nicht impfen lassen können", so Reinhardt. Kinder und Jugendliche gehörten zu den großen Verlierern der Pandemie.
"Jeder Erwachsene kann mit einer Impfung dazu beitragen, die Infektionsdynamik unter Kindern und Jugendlichen zu bremsen, die Schulen offen zu halten und so das Recht auf Bildung und sozialer Teilhabe für die Jüngsten in unserer Gesellschaft zu sichern." Dafür brauche man kreative Informationskampagnen und unkonventionelle Anreize für eine Impfung. "Es muss ja nicht die Bratwurst sein, aber zum Beispiel mobile Impfteams vor Fußballstadien und Freikarten für das Fußballspiel können helfen, Menschen für eine Impfung zu gewinnen, die den Gang zum Arzt oder in ein Impfzentrum bisher aufgeschoben haben."
Foto: Weggeworfener Mundschutz, über dts Nachrichtenagentur