Das mediale Großaufgebot für Links-Grün und die Folgen. Eine grüne Kanzlerin wird es wohl nicht, dafür aber Olaf Scholz. Die politische Konstellation bleibt ungewiss. Wie geht es weiter in Deutschland? Pressestimmen zur Wahl.
Pressestimmen zur Wahl:
Stuttgarter Nachrichten
Die Zeit der Volksparteien ist vorbei. Zumindest das gehört zu den klaren Ergebnissen dieser Bundestagswahl. Nun ist auch die Union ihren Status als der letzten Partei los, die bundesweit einen Stimmenanteil von deutlich oberhalb 30 Prozent mobilisieren konnte. Wie sehr dieser Status zuletzt an der Person der scheidenden Kanzlerin Angela Merkel hing - auch das steht jetzt fest.
Billig wäre es, das Absacken der Union allein an ihrem Kanzlerkandidaten Armin Laschet festzumachen. Klar, er hat den Nerv vieler Wähler nicht getroffen. Doch auch die vielen Quertreiber in den eigenen Reihen - allen voran der CSU - haben der Talfahrt reichlich Schwung gegeben. Wie auch die verkorkste Kampagne, die Laschets Stärken als Regierungschef Nordrhein-Westfalens nie zur Geltung brachte.
Phoenix (ARD)
Die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion, Britta Haßelmann, sieht trotz einer Enttäuschung über das Abschneiden ihrer Partei einen klaren Auftrag für mehr Klimaschutz. "Wir haben ein enttäuschendes Ergebnis im Hinblick darauf, dass wir führende Kraft sein wollten, dass wir das Kanzleramt nicht erreichen konnten. Von daher ist das ein Abend mit gemischten Gefühlen. Wir wissen aber, dass der Auftrag da ist, Klimaschutz jetzt endlich in einer Regierung zu verankern, und wir werden Verhandlungen führen, mit wem das möglich ist", sagte Haßelmann im phoenix-Interview. Diese Wahl zeige auch, dass "die Zeit der beiden großen Volksparteien endgültig zu Ende" sei.
Westdeutsche Allgemeine Zeitung
Angesichts des extrem knappen Wahlergebnisses und der Unklarheit, wer die nächste Regierung bilden wird, mahnen Konzerne und Wirtschaftsverbände in NRW zur Eile. "Was auch immer am Ende von Sondierungen und Koalitionsverhandlungen steht, es sollte so schnell wie möglich gehen, denn Deutschland braucht Stabilität und einen klaren Kurs", sagte RWE-Chef Markus Krebber der in Essen erscheinenden Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ, Montagausgabe). Denn: "Vor uns liegt ein Jahrzehnt der großen Veränderung. Wir brauchen Tempo um die Weichen für eine klimaneutrale Industrie zu stellen, die Infrastruktur zu modernisieren und die Digitalisierung massiv voran zu treiben. Dafür braucht es eine geschlossene kraftvolle Regierung die jetzt handelt."
Auch NRW-Arbeitgeberpräsident Arndt Kirchhoff mahnt zur Eile: "Es ist das erwartet komplizierte Ergebnis. Ich hoffe trotzdem auf eine schnelle Regierungsbildung. Die Herausforderungen für unser Land sind zu groß, als dass wir uns nun eine monatelange Hängepartie in Berlin leisten können", sagte er der WAZ. Sein Favorit sein eine Jamaika-Koalition aus Union, Grünen und FDP: "Ihr traue ich am ehesten zu, gleichermaßen die ökonomischen wie auch die ökologischen Herausforderungen zu meistern."
Erleichtert darüber, dass ein Linksbündnis keine Mehrheit hat, zeigte sich Evonik-Chef Christian Kullmann, zugleich Präsident des Verbands der Chemischen Industrie (VCI): "Rot-Grün-Rot wird es nicht geben, das ist gut und wichtig", sagte er der WAZ. Die Menschen hätten in großer Mehrheit eine wirtschaftsfreundliche Politik gewählt. "Die Grünen sind nach ihren Höhenflügen wieder im Normalmaß angekommen. Sie haben nun die Chance, eine stabile Regierung der ökonomischen Vernunft mitzutragen: für Wirtschaftswachstum, Innovation und Klimaschutz", sagte Kullmann.
Die Frankfurter Rundschau bewertet das Ergebnis der Bundestagswahl:
CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP finden es irgendwie gut, wenn unter ihnen jede mit jedem kann. Aber das ständige Demonstrieren von Offenheit nach fast allen Seiten ist dem Auftrag, den die krisenhafte Gegenwart für die Politik bedeutet, in keiner Weise gerecht geworden. Und die Ergebnisse sind auch nicht gerade ein Qualitätsnachweis: Die SPD darf sich für einen Stimmenanteil feiern, den sie vor einem Jahrzehnt noch für desaströs gehalten hätte. Und die Union hat das Desaster nachgeholt.
Wer Klimawandel, geopolitische Verwerfungen sowie soziale Spaltung ernst nimmt, hätte eigentlich sehen müssen, dass es um Richtungsentscheidungen geht. Aber die Parteien der "demokratischen Mitte", vor allem Union und SPD, versuchten genau das vor den Wählerinnen und Wählern zu verbergen. Diese bewusste Ignoranz muss, wenn es demnächst in Koalitionsgespräche geht, ein Ende haben.
Neues Deutschland
Kaum eine Bundestagswahl hat so wie diese das Parteiensystem verändert und erschüttert. Die Wählerschaft hat sich weiter fragmentiert - noch nie ist es passiert, dass die stärkste Kraft gerade einmal rund ein Fünftel der Wahlberechtigten erreicht. Von Volksparteien mag man da beim besten Willen nicht mehr sprechen; SPD und Union sind auf dem besten Wege, Klientelparteien wie etwa die FDP zu werden. Offenbar machen sie kein politisches Angebot mehr für die breite Masse. Die SPD steckt, auch wenn sie sich jetzt als Gewinnerin fühlt, noch immer tief in jenem wahlpolitischen Souterrain, in das sie nach der Schröder-Ära abgestiegen ist. Die CDU wiederum ist beim Abschied der Langzeitkanzlerin ein Scherbenhaufen - das gehört zur Bilanz jener Frau, der jetzt in höchsten Tönen nachgerufen wird.
Diverse Krisen - Finanz- und Eurokrise, Flüchtlingsdebatte, Turbulenzen in der EU, Fiasko in Afghanistan, Coronakrise, Klimawandel, ganz und gar nicht zuletzt die anhaltende soziale Spaltung - haben das Vertrauen in die Politik erschüttert und gezeigt, dass diese nur begrenzt in der Lage ist, zukunftsfähige Antworten auf existenzielle Fragen zu geben. Zukunftsfähig heißt: an die nächsten Generationen zu denken, Gerechtigkeit national und global zum entscheidenden Kriterium von Politik zu machen.
Gut möglich, dass nun eine Dreierkoalition kommt - auch das ein Novum auf Bundesebene. Wobei sich hier nur nachvollzieht, was in etlichen Bundesländern längst üblich ist. Es sei denn, die SPD ließe sich auf das absurde Wagnis ein, schon wieder mit der Union zu regieren.