Der Berliner Weihnachtsmarkt-Attentäter Anis Amri ist von Polizei und Nachrichtendiensten sehr viel früher und sehr viel intensiver observiert, beschattet und abgehört worden, als bisher von Behörden und Bundesregierung zugegeben.
Dies geht aus Tausenden Akten, dutzenden V-Mann-Berichten und den Protokollen von Telefon- und Internetüberwachungen hervor, über die die "Welt am Sonntag" berichten. Spätestens seit November 2015 ließ die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe den Tunesier vom Bundeskriminalamt (BKA) und vom Landeskriminalamt (LKA) Nordrhein-Westfalen durch einen V-Mann der Polizei, der sich "Murat" nannte und als "VP01" in den Akten auftaucht, gezielt überwachen.
Die Maßnahme war Teil der verdeckten Ermittlungen gegen die mutmaßliche IS-Terrorzelle des Hildesheimer Hasspredigers Abdullah A., der unter seinem Decknamen "Abu Walaa" bekannt ist. Bereits am 24. November 2015, mehr als ein Jahr vor dem Anschlag auf den Breitscheidplatz, meldete "VP01" konkrete Terrorpläne Amris an das LKA Düsseldorf.
Diese wurden - wie alle weiteren Erkenntnisse - von dort an BKA, Generalbundesanwalt und das Bundesamt für Verfassungsschutz weitergereicht. Spätestens seit dem 3. Dezember 2015 wurden deshalb die häufig wechselnden Mobiltelefone Amris abgehört und seine Internetverbindungen überwacht.
Bereits am 14. Dezember 2015 lud Anis Amri mit seinem rund um die Uhr überwachten Smartphone detaillierte Anleitungen zum Mischen von Sprengstoff sowie zum Bau von Bomben und Handgranaten herunter. Spätestens ab dem 2. Februar 2016 telefonierte Amri auf diesem abgehörten Handy mit zwei IS-Kadern der mittleren Führungsebene in Libyen und bot sich als Selbstmordattentäter für einen Anschlag in Deutschland an.
Mithilfe des Polizeispitzels "VP01" gelang es den Staatsschützern noch im selben Monat, in die zusätzliche, verschlüsselte Chat-Kommunikation Amris mit den IS-Kadern in den Messenger-Diensten Telegram und WhatsApp einzudringen. Während die Bundesregierung bis heute behauptet, BND und BfV hätten im Fall Amri keine eigene operative Rolle gehabt, liegen der "Welt am Sonntag" nach eigenen Angaben Behörden-Mails und Akten vor, die eine stärkere Rolle der deutschen Nachrichtendienste belegen.
So verfasste das BfV bereits im Januar 2016 eine zweiseitige Analyse zu Anis Amri, die von BfV-Chef Maaßen persönlich unterschrieben wurde. Über 12.000 Datensätze, darunter die Kommunikation mit Amris IS-Kontaktleuten in Libyen, die am 18. Februar 2016 in Amris Smartphone sichergestellt worden waren, wurden vom BKA an das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) weitergeleitet.
Dies belegt der Auswertungsbericht des BKA. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte für Anis Amri sogar eine eigene Sachbearbeiterin eingesetzt. Diese Agentin F. (ihr Name ist der "Welt am Sonntag" nach eigenen Angaben bekannt) ist bei der Antiterror-Abteilung des BfV in Berlin eingesetzt. Sie befindet sich auf demselben Gelände wie die für Amri ebenfalls zuständige Staatsschutzabteilung 33 des BKA.
Die Recherchen der "Welt am Sonntag" belegen zudem, dass Amri schon vor seiner Ankunft in Italien im April 2011 über enge persönliche und sogar familiäre Verbindungen zu Kämpfern und Führungskadern des Islamischen Staates in Libyen verfügt. Diese Kontakte waren zumindest dem tunesischen Geheimdienst seit Jahren bekannt.
Nachweislich erfuhren auch BKA und Bundesanwaltschaft spätestens im März 2016 von diesen familiären Beziehungen Amris zum Islamischen Staat, als sie ein Telefongespräch Amris abhörten, in dem dieser vom Tod eines Cousins im Kampf für den IS berichtete.
Der Grund, warum Anis Amri trotz dieser frühen und erdrückenden Erkenntnisse der deutschen Ermittlungsbehörden und der Nachrichtendienste nicht bereits ein Jahr vor dem Anschlag in Berlin verhaftet wurde, geht aus den vorliegenden Akten nicht hervor. Allerdings legen die mehrmonatigen Recherchen der "Welt am Sonntag" eine Verwicklung auch internationaler Geheimdienste nahe.
Diese dürften in Amri einen Lockvogel gesehen haben, der sie zu seinen Hintermännern, den Anschlagsplanern des IS in Libyen führen sollte. Tatsächlich war Amri nach den Erkenntnissen der "Welt am Sonntag" schon unmittelbar nach seiner Freilassung aus italienischer Abschiebehaft im Mai 2015 vom italienischen Inlandsgeheimdienst AISI überwacht worden.
Angeblich habe man ihn verloren, als er sich auf den Weg nach Deutschland machte. Wenige Wochen nach seiner Erschießung nahe Mailand griffen zudem B2-Tarnkappenbomber der US Air Force in einer aus Deutschland gesteuerten Geheimoperation am 19. Januar 2017 exakt jenes IS-Wüstencamp in Libyen an, in dem die Hintermänner des Attentats vom Breitscheidplatz vermutet wurden.
Hans-Christian Ströbele, Mitglied des Geheimdienst-Kontrollgremiums des Bundestags, vermutet deshalb im Interview mit der "Welt am Sonntag" die "ordnende Hand" eines US-Geheimdienstes oder des US-Militärs hinter der "ansonsten unerklärlichen" Nicht-Festnahme von Anis Amri.
Dass die Bundesregierung die am Tag nach dem Anschlag von Bundeskanzlerin Merkel versprochene Aufklärung der Hintergründe auch ein Jahr danach noch nicht geliefert habe, "ist ein riesiger Skandal", so Ströbele.
Foto: Breitscheidplatz nach Anschlag auf Weihnachtsmarkt, über dts Nachrichtenagentur