Leicht geht heute vergessen, wie viel Widerstand es damals im In- und Ausland gegen die Wiedervereinigung gab. Nicht nur Kohls damaliger Widersacher Oskar Lafontaine und die Grünen, sondern auch wichtige Verbündete Deutschlands waren vehement gegen die deutsche Einheit.
Von Rainer Zitelmann
In den Nachrufen auf Helmut Kohl werden vor allem seine Verdienste um die deutsche und die europäische Einheit hervorgehoben. In der Tat war es ein Meisterwerk der Staatskunst, wie er die Chance zur Herstellung der deutschen Einheit genutzt hat. Leicht geht heute vergessen, wie viel Widerstand es damals im In- und Ausland gegen die Wiedervereinigung gab. Heute tun alle so, als seien sie stets für die Wiedervereinigung gewesen – doch das ist eine der großen Geschichtslügen in Deutschland.
Höchste Staatskunst
Nicht nur Kohls damaliger Widersacher Oskar Lafontaine und die Grünen, sondern auch wichtige Verbündete Deutschlands waren vehement gegen die deutsche Einheit. Die Briten lehnten die deutsche Einheit ganz offen ab, die Franzosen waren auch dagegen, formulierten dies nur etwas höflicher. Und die politische Linke in Deutschland – Intellektuelle wie etwa Günter Grass oder Jürgen Habermas - verklärte die Zweistaatlichkeit Deutschland als gerechte Strafe für Hitler und als Endzustand der deutschen Geschichte.
Noch im November 1989 warnte Jürgen Habermas vor Kohl, der einen „Anschluss“ der DDR an die Bundesrepublik vorbereite: „Eine kapitalistische Umgestaltung der Wirtschaft“, so Habermas, „würde auf kaltem Wege die politische Eigenständigkeit der DDR aushöhlen.“ Kohl waren solche Einstellungen stets ganz fremd, obwohl es durchaus auch in der CDU Gegner der deutschen Einheit gab.
Es ist allerdings eine Legende, wenn heute behauptet wird, Kohl habe Zeit seines Lebens zielstrebig und unbeirrt auf die deutsche Einheit hingearbeitet. Das hat er so wenig wie die meisten anderen deutschen Politiker. Aber als die Chance zur Einheit da war, da zögerte er keinen Moment und managte mit höchster Staatskunst einen Prozess, der letztendlich in der Wiedervereinigung mündete.
Der Europäer
Was Kohls Verdienste um die europäische Einheit anlangt, so ist das Urteil widersprüchlich: Vergleicht man seine Leistungen in dieser Beziehung mit der Politik von Angela Merkel, die beispielsweise mit ihrer grenzenlosen Willkommenskultur viel Zwietracht zwischen uns und unseren Nachbarn gesät hat, dann ist das Urteil über Kohl ausgesprochen positiv. Kohl hat viel zur europäischen Einigung beigetragen, aber bei der Einführung des Euro (und vielleicht auch mit der Einführung des Euro) ernste Fehler gemacht, die sich erst viele Jahre später auswirkten. Das haben Kritiker damals richtig erkannt.
Wirtschaft
In der Wirtschaftspolitik hat sein Nachfolger Gerhard Schröder wichtigere Impulse gesetzt als Kohl dies tat. Kohl war die Wirtschaft fremd, wenn auch nicht so fremd, wie sie Angela Merkel ist. Die Agenda 2010 und die Steuerreform von Schröder wären schon sehr viel eher notwendig gewesen. Exorbitant hohe Steuern und ein verkrusteter Arbeitsmarkt hatten Deutschland zum Ende der Ära Kohl in eine ähnliche Lage gebracht, wie heute Frankreich. Nicht umsonst beruft sich Sarah Wagenknecht heute immer wieder auf die Zeiten Kohls, wo der Spitzensteuersatz bei bis zu 56 Prozent (am Schluss: 53%) lag. Erst der Sozialdemokrat Schröder senkte ihn auf 42 Prozent.
Kohl in den Geschichtsbüchern
Helmut Kohl war, so wie ich, von seiner Berufsausbildung Historiker, er hatte in Geschichte promoviert. Für ihn war es stets wichtig, wie sein Wirken später in Geschichtsbüchern wohl beurteilt werden würde. Seine Schwächen werden im historischen Rückblick weitaus weniger Gewicht haben als sein epochaler Verdienst, die deutsche Einheit gegen alle Widerstände aus dem In- und Ausland zu realisieren.