Antwort: Teil unserer Strategie ist es, das wir uns nicht im Vorhinein festlegen. Das gilt ganz besonders in Zeiten hoher Unsicherheit, denn wir müssen immer auch auf unvorhergesehene Ereignisse vorbereitet sein. Wir sagen aber auch bereits seit mehreren Monaten, dass unser Leitzinsniveau angemessen ist. Und das wiederhole ich auch noch einmal gerne ausdrücklich.
Frage: Der Leitzins im Euroraum müsste nach allen traditionellen Maßen, deutlich negativ sein. Warum sträubt sich die EZB gegen weitere Zinssenkungen?
Antwort: Je nach dem, welche Variante der Taylor-Regel, die Sie hier offenbar ansprechen, man nimmt ,kommt man zu unterschiedlichen Ergebnissen. Ob der Leitzins dann einen Viertelpunkt höher oder niedrig liegt, ist eine akademische Diskussion. Wir agieren höchst pragmatisch und machen uns nicht zu Sklaven theoretischer Modelle. Wir betreiben kein Inflation targeting und wir verfolgen keine Taylor-Regel. Fest steht: Der Marktzins im Euroraum ist – auch im internationalen Vergleich - sehr niedrig. Und das ist für die Wirtschaft das entscheidende.
Frage: Sie begrüßen also diese sehr niedrigen Zinsen?
Antwort: Man muss sich stets auch die negativen Effekte exzessiv niedriger Zinsen vor Augen führen. Zum ersten kann man den zusätzlichen Effekt weiterer Zinssenkungen durchaus in Frage stellen, wenn das Niveau bereits niedrig ist. Man darf die marginale Wirkung von Zinssenkungen nicht einfach linear bis in den negativen Bereich fortschreiben. Zum zweiten kann das institutionelle Umfeld leiden, wenn die Zinsen nahe der Nulllinie sind. Die Funktionsfähigkeit von Geldmarktfonds sowie des Interbankenmarktes wäre gefährdet.
Frage: Und drittens?
Antwort: Die Kapitalallokation läuft nicht effizient, wenn die Zinsen exzessiv niedrig sind. Und schließlich haben die Banken in einem solchen Umfeld auch keinen besonders hohen Anreiz, ihre Bilanzen zu bereinigen
Frage: Paul Krugman argumentiert, dass die Realzinsen negativ sein müssten, um die Konsumenten von einer Steigerung ihrer Sparquote abzuhalten. Das spräche für höhere Inflationsziele. Ist das die Debatte der nächsten Jahre?
Antwort: Die US-Sparquote ist zuletzt auf 4% gestiegen – von negativen Raten kommend. Von einem Exzess kann man hier sicherlich nicht sprechen. Chinas Sparquote liegt dagegen bei reichlich 40%. Wir sollten nicht vergessen, dass diese beiden Pole zu einem erheblichen Teil die globalen Ungleichgewichte bestimmen, die immer noch eines der größten Risiken für die Erholung der Weltwirtschaft darstellen.
Frage: Was halten Sie von den Interventionen der Schweizer Nationalbank SNB am Devisenmarkt, bis zu welchem Grad sind diese akzeptabel?
Antwort: Wenn Luxemburg nicht in Euroraum wäre, hätte ich sehr viel Verständnis für die Schweizer Politik. Nun unterliegen die Eidgenossen Zwängen und verfügen über ein Instrumentarium, dass wir so nicht kennen. Zwar gebe ich grundsätzlich keine Kommentare über die Politik befreundeter Notenbanken ab, aber würde es begrüßen, wenn die Schweizer der EU beitreten und langfristig einen zuverlässigen Partner für stabilitätsorientierte Währungspolitik in der Eurozone stellen würden.
Frage: Alle Welt spricht von „grünen Trieben“ bei der wirtschaftlichen Erholung. Teilen Sie diese Einschätzung - speziell mit Blick auf den Euroraum?
Antwort: Ich würde nicht von „green shoots“, also grünen Trieben, sprechen, sondern von „green roots“ – d.h. Wurzeln, die bekanntlich noch unter der Erde wachsen. Für die grünen Triebe sprachen bislang vor allem die nach vorne gerichteten Umfragedaten. Anhand der jüngsten harten Indikatoren können wir lediglich erkennen, dass sich die Geschwindigkeit des Absturzes verlangsamt – aber immer noch im negativen Territorium.
Frage: Wann erwarten Sie die Wende zum besseren?
Antwort: Wir gehen davon aus, dass wir erst Mitte des kommenden Jahres positive Wachstumsraten auf Quartalsbasis sehen werden. Dieses Basisszenario wird von sehr viel Unsicherheit umgeben. Es sind bis dahin immerhin noch vier Quartale.
Frage: Für wie wahrscheinlich halten Sie das Szenario eines „verlorenen Jahrzehnts“ für den Euroraum im Stil der japanischen Erfahrung?
Antwort: Man kann aus Japans leidvollen Erfahrungen vor allem auch Lehren ziehen. So darf man etwa auf eine geplatzte Immobilien- und Aktienblase nicht zögerlich reagieren, weil sich ansonsten die Erholung zu lange hinzieht. Man darf eine Politik der ruhigen Hand nicht mit einer Politik der trägen Hand verwechseln.
Frage: Was erarten Sie für den Euroraum?
Antwort: Drei Szenarien sind möglich: Erstens, dass wir den Absturz beim Wachstum zügig mit höheren Raten wieder aufholen, und es geht weiter wie bislang. Daran glaube ich aber nicht. Zweitens, wir erleiden einen Niveauverlust beim Wachstum, so dass selbst bei der vertrauten Wachstumsgeschwindigkeit die Erholung einige Jahre kosten wird. Drittens, und das ist das worst case Szenario, fällt neben dem Niveauverlust beim Wachstum auch das Trendwachstum zukünftig niedriger aus. Angesichts der gestutzten Produktivität vor allem im Bankensektor und der virulenten Gefahr strukturell höherer Arbeitslosigkeit, kann man das zumindest nicht ausschließen. Aber es ist nur ein Szenario von mehreren.
Frage: Was kann man dagegen tun?
Antwort: Zunächst gilt es zu verhindern, dass sich der zu beobachtende Anstieg der Arbeitslosigkeit strukturell verhärtet. Darauf zielen ja auch die unfangreichen fiskalischen Programme ab. Dann dürfen wir bei den derzeit angesagten Regulierungsreformen nicht über das Ziel hinaus schießen. Schließlich müssen wir Investitionen im Bereich Forschung und Entwicklung fördern, um die Produktivität von sowohl Arbeit als auch Kapital wieder auf Vordermann zu bringen.
Frage: Die Staatsschulden steigen weltweit drastisch. Wann sind die Grenzen der Belastbarkeit erreicht?
Antwort: Die Belastbarkeit der öffentlichen Haushalte hängt stark von den Niveaus vor der Krise ab. Wir haben daher gefordert, dass Länder mit hohen öffentlichen Defiziten und Schuldenständen zukünftig ehrgeiziger bei der Konsolidierung vorgehen müssen, um eine Rückkehr zu soliden und nachhaltigen öffentlichen Finanzen zu gewährleisten. Konkret sollte die jährliche strukturelle Anpassung dieser Länder mindestens 1 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen, und nicht nur, wie im Stabilitäts- und Wachstumspakt vorgesehen, 0,5 % des BIP.
Frage: Sie, die Währungshüter, fordern klare Exit-Strategien von der Fiskalpolitik. Von der Exit-Strategie der EZB weiß man aber auch noch nicht so viel Konkretes.
Antwort: Unsere Maßnahmen haben eingebaute Exit-Strategien. Die jeweiligen Programme laufen aus und werden nicht erneuert, wenn sich die Situation wieder normalisiert. Aber in der Tat müssen wir beim Ausstieg aus den einzelnen Maßnahmen die Gesamtwirkung im Auge behalten.
Frage: Wenn der Zinssatz am besicherten Interbankenmarkt, der Eurepo, unter dem Refinanzierungssatz der EZB liegt und diese Liquidität voll zugeteilt, heißt das dann nicht, dass die EZB nur noch „Schrott“-Sicherheiten erhält, die kein Marktteilnehmer mehr haben möchte?
Antwort: So kann man das nicht formulieren, es würde die Debatte auf den Kopf stellen. Vielmehr verhält es sich so, dass die Liquiditätsbedürfnisse vieler Kreditinstitute am Markt nicht mehr gedeckt werden. Hier gewährleistet inzwischen die EZB die Funktionsfähigkeit der Liquiditätsversorgung.
Frage: Auf Kosten der Qualität der bei der Zentralbank hinterlegten Sicherheiten ...
Antwort: Wenn man jemandem unter die Arme greifen will, versetzt man ihm nicht zeitgleich einen Stoß, so dass er wieder hinfällt. Der relative Anteil sehr sicherer und liquider Wertpapiere hat bei den Repo-Geschäften sicherlich abgenommen. Wir haben dies erwartet, als wir die Bonitätsanforderungen für Sicherheiten im Repo-Geschäft heruntergefahren haben. Zugleich haben wir mitunter die Bewertungsabschläge erhöht, um Exzesse und Missbrauch zu verhindern.
Frage: Ist das alles?
Antwort: Außerdem achten die Zentralbanken des Eurosystems darauf, Auswüchse zu verhindern, etwa wenn forderungsbesicherte Anleihen (ABS) nur zum Zwecke der Refinanzierung bei der EZB aufgelegt werden. Schließlich unterliegt es dem Ermessensspielraum der nationalen Zentralbanken, bestimmte Wertpapiere abzulehnen. Schwer durchschaubare „doppelte“ oder „dreifache Lottchen“ - also ABS, die ABS enthalten, die ABS enthalten ... – sehen wir nicht so gerne bei den geldpolitischen Operationen.
Frage: Dennoch: Das Eurosystem hat bei der Lehman-Pleite und weiteren Ausfällen kleinerer Banken potenzielle Verluste in Höhe von gut 11 Mrd. Euro erlitten. Diese gingen auf autonome Entscheidungen einiger weniger nationaler Zentralbanken zurück, die Verluste wurden aber über den Kapitalschlüssel „sozialisiert“.
Antwort: Die Entscheidungen beruhen auf einem gemeinsamen Regelwerk. Diese Verluste aufzuteilen, spiegelt die diskretionäre Einschätzung des EZB-Rats wider, dass die beteiligen Zentralbanken in Anwendung dieses gemeinsamen Regelwerkes keine Fehler begangen haben. Der EZB-Rat trägt die Entscheidung, diese Risiken einzugehen mit. Dahinter verbirgt sich aber kein Automatismus für die Zukunft.
Frage: Inwiefern gibt es zumindest Verbesserungen im Risikomanagement bei den geldpolitischen Operationen?
Antwort: Wir könnten die Spezialisierung der Nationalen Zentralbanken etwa bei der Bewertung verschiedener Papiere stärker formalisieren oder die Gespräche über deren Annahmefähigkeit im Einzelfall strukturieren. Das Ziel ist Finanzstabilität. Der Preis ist erhöhtes Risiko. Die Antwort strafferes Risikomanagement.
Frage: Die EZB hat vergangene Woche damit begonnen, Pfandbriefe und Covered Bonds in Höhe von bislang 66 Mill. Euro zu kaufen. Das Paket kann bis zu 60 Mrd. Euro groß werden. Da jede nationale Zentralbank selbst entscheidet, welche Anleihen und welche Laufzeiten sie kauft, kann kaum eine einheitliche Exit-Strategie durchgesetzt werden.
Antwort: Sie unterstellen, dass wir die Liquidität aus diesem Programm nur über einen Verkauf der entsprechenden Papiere und damit verbundene Bilanzverkürzung wieder einsammeln können. Es gibt aber noch andere Möglichkeiten.
Frage: Als da wären?
Antwort: Zum Beispiel kann man die Covered Bonds in die Investmentportfolios der jeweiligen Zentralbanken umschichten oder man kann Einlagenzertifikate begeben, und es gibt noch eine Reihe weiterer Maßnahmen, um die Liquiditätsneutralität wieder herzustellen.
Frage: Was ist mit den kalkulatorischen Verlusten, für den Fall, dass die Kurse für Pfandbriefe im Aufschwung sinken, sie die Papiere aber behalten? Müssen wir uns für die nächsten Jahre auf solche Verluste in der Gewinn- und Verlustrechnung der EZB einstellen?
Antwort: Dieses Risiko bestünde nur für den Fall, dass die Wertpapiere im Handelsbuch der Zentralbanken verbucht sind und damit Market-to-Market bilanziert würden. Das ist aber, wie gesagt, nicht zwangsläufig so.
Frage: Sie repräsentieren ein Land, das maßgeblich von seinem Bankensektor geprägt wird. Wie schlägt sich das Großherzogtum in der Krise?
Frage: Die Luxemburger Wirtschaft wird dieses Jahr in etwa so stark schrumpfen wie die Wirtschaft des Euroraumes insgesamt. Das bedeutet für uns einen überproportionalen Rückschlag, weil wir von einem höheren Wachstumspfad kommen. Luxemburg erzielte in den vergangenen Jahren Wachstumsraten vor über 4%, was auf die relativ hohe Produktivität im Finanzsektor und die hohen Arbeitseinsatz von Pendlern aus dem benachbarten Ausland zurückzuführen war. Wir sind uns aber bewusst, dass unser Wirtschafts- und Sozialapparat, der auf diese wirtschaftliche Dynamik ausgerichtet ist, nicht mehr zu halten sein wird, wenn die Ertragskraft des Finanzsektors strukturell nachlässt.
Frage: In Deutschland macht zunehmend die Sorge um eine Kreditklemme die Runde. Sollte die EZB – oder womöglich die Bundesbank - eingreifen, indem sie Unternehmen am Bankensektor vorbei direkt Mittel zukommen lässt?
Antwort: Entscheidungen zur Geldpolitik werden im EZB-Rat für den gesamten Euroraum getroffen aufgrund von Fakten. Poltergeister beeinflussen uns nicht.
Frage: Die Debatte findet statt – unanhängig davon, wer sich dazu äußert.
Antwort: Mit Blick auf die vermeintliche Kreditklemme nehme ich mit einigem Unverständnis zur Kenntnis, dass sich die hier ortsansässigen Pfandbriefbanken darüber beschweren, dass ihre Mütter Geld bekommen haben und die Europäische Kommission zum Ausgleich die Verkürzung der Bilanzen fordert und sie deshalb keine neuen Pfandbriefe begeben können. Es erscheint in der Tat paradox, wenn den Banken einerseits zusätzliches Kapital zur Verfügung gestellt wird, andererseits aber im Gegenzug die Forderung gestellt wird, ihre Bilanzen zu verkürzen. Die Politik darf sich nicht lauthals über eine vermeintliche Kreditklemme beklagen, wenn sie selber dazu beiträgt.
Frage: Liquidität ist kein Problem mehr für Banken, sie liegt jetzt auf der Asset-Seite der Bankbilanzen: ein Berg von Abschreibungen, der die Eigenkapitalbasis weiter schwächen wird. Wäre es nicht an der Zeit für Zwangs-Stresstest und verbindlichen Rekapitalisierung der Banken?
Antwort: Es ist von ganz entscheidender Bedeutung, dass der Finanzsektor in Europa wieder auf die Beine kommt. Ein großer Teil der Realwirtschaft, vor allem Kleine und Mittelständische Unternehmen (KMU), hängt von den Banken ab und kann sich nicht über den Kapitalmarkt finanzieren. Dabei hat EZB die Banken ausdrücklich dazu aufgerufenen, die angebotenen staatlichen Hilfsmaßnahmen zu nutzen. Das Rekapitalisierungsangebot ist in Europa noch nicht ausgeschöpft. Stresstests stehen auf der Tagesordnung.
Frage: Also Banken retten um jeden Preis?
Antwort: Zu einer funktionierenden Marktwirtschaft gehört ein funktionierender Bankensektor, um die private Kapitalallokation zu gewährleisten. Auf diese Aufgabenteilung zwischen Zentralbank und Finanzsektor zu verzichten erinnert mich an zentralistische Planwirtschaft. Da würde ich bei zusätzlichem Aktionsbedarf eher über einigen Spielraum etwa bei dem KMU-Programm der Europäischen Investitionsbank nachdenken. Im Rahmen dieses sehr umfangreichen Programms könnte man über Verbriefungen (ABS) ein ausgetrocknetes Segment mit Standardisierung wiederbeleben.
Frage: Inwiefern reichen die Instrumente, die für den europäischen Systemrisikorat derzeit vorgesehen sind, um eine effektive makro-prudenziellen Aufsichtsinstanz bei der EZB zu etablieren? Konkret: Reichten dem ESRB aggregierte Daten oder braucht er nicht vielmehr direkten Einblick in die Bücher der grenzüberschreitend aktiven Institute?
Antwort: Die rechtliche Vorlage der Kommission steht ja erst im September an, insofern kämen abschließende Urteile zu den derzeit diskutierten Vorschlägen verfrüht. Gleichwohl ist abzusehen, dass sämtliche Informationsträger innerhalb dieses Gremiums versammelt sein werden – ob mikro- oder makro-prudenziell relevante Informationen. Entscheidend ist dabei, dass diese miteinander reden und sich austauschen. Klar ist: Die Informationsverweigerung und das grundschulhafte nationale Absichern von Information, das wir in der Vergangenheit gesehen haben, ist als ein unhaltbares Muster erkannt worden.
Frage: Wird nicht die Unabhängigkeit der Zentralbank durch die Aufsichtsaufgabe und damit die größere Nähe zur Finanzpolitik aufgeweicht?
Antwort: Mein ordnungspolitisches Bauchgefühl sagt mir: Diese Gefahr zu verneinen, wäre fehl am Platze. Aber wir können nicht sagen, wir wollen damit nichts zu tun haben.
Frage: Sondern?
Antwort: Wir müssen uns darauf konzentrieren einen theoretisch robusten, operationell funktionsfähigen und der Öffentlichkeit vermittelbaren Unterbau zu schaffen, aus dem hervorgeht, welche Instrumente für welche Aufgaben eingesetzt werden und wo es Abgrenzungen zwischen den Zielen, den Instrumenten und von der Politik gibt. So einfach wie bisher - ein Ziel, ein Instrument – wird es zukünftig nicht mehr sein. [Börsen-Zeitung Erscheinungstag 15.7.2009]