Wesentliche Beschränkungen sollen bis zum Mai erhalten bleiben. Das Grundgesetz bleibt weiter eingeschränkt. Welche Rechte hat jetzt jeder Einzelne? Wie soll das enden? Und was droht Kritikern?
von Wolfgang Hübner
Eine Frage wird, soweit mir bekannt, in der gegenwärtigen Virus-Krise bislang weder gewagt, gestellt, diskutiert oder gar beantwortet: „Welchen Preis an gesundheitlichem Risiko und möglichen menschlichen Opfern sind komplex organisierte moderne Gemeinschaften (Staaten) bereit zu entrichten, um ihr erreichtes gesellschaftliches und ökonomisches Niveau bewahren zu können?“
Die Scheu vor dieser Frage und noch viel mehr vor ihrer Beantwortung ist verständlich. Doch die fundamentalen Probleme, die schon in der Frage berührt werden, können mit ihrer Tabuisierung einstweilen nur verdrängt, aber nicht behandelt oder gar gelöst werden.
Deshalb machen salbungsvolle Politikeransprachen an die zutiefst verunsicherten Bevölkerungen rund um die Welt vielleicht einen gewissen psychologischen Sinn. Sie drücken sich jedoch um substantielle Stellungnahmen in einer Situation, in der existenzielle Entscheidungen mit Folgewirkung für ganze Nationen wie für einzelne Individuen von Tag zu Tag notwendiger werden.
Das geschieht in einer Zeit, in der medizinisch noch lange nicht mit einer wirksamen Bekämpfung des Virus gerechnet werden kann. Zugleich allerdings werden die negativen gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen der Krise immer spürbarer und unberechenbarer.
Die Herausforderung der Regierenden
Deshalb dürften Politiker in höchsten Ämtern nicht umhinkommen, ihren Regierten zu erklären, warum trotz der ungeklärten Gefährdungslage durch das Virus soziale und wirtschaftliche Aktivitäten nach dem teilweisen Stillstand schon sehr bald wieder aufgenommen werden müssen.
Das wird besonders in Deutschland jenen Politikern gar nicht schmecken, die neben für sie (unverdient) positiven Umfrageergebnissen sicher freudig bemerkt haben, wie eingeschüchtert und obrigkeitshörig große Teile des Souveräns selbst Verfassungsbrüche und unsinnige Schikanen hingenommen haben.
Doch länger als höchstens vier bis sechs Wochen kann ein so hochorganisiertes, extrem auf Export orientiertes Land wie der Kernstaat der von der Krise arg ramponierten EU den Betrieb nicht in weiten Teilen radikal drosseln oder sogar einstellen. Das wäre nur dann möglich, und trotz aller Folgen auch notwendig, im Falle eines drohenden Massensterbens von Menschen. Ein solcher Fall ist bei Pandemien keineswegs ausgeschlossen, bei dem derzeit relevanten Corona-Virus aber nach fachlicher Ansicht auszuschließen. Gerade das jedoch macht die Situation nicht leichter für die Begründung der Beendigung der Auszeit.
Die „Religion“ Individualismus
Denn zumindest in den hochentwickelten Industriestaaten regiert faktisch längst eine Art neue „Religion“, nämlich diejenige der Kultur des Individualismus. Das Wohl und Leben des Einzelmenschen hat darin mehr Bedeutung als der Bestand und das Wohlergehen der Gemeinschaft, des gesellschaftlich-staatlichen Kollektivs.
Diese Mentalität herrscht unabhängig davon, ob ein Staat autoritär wie Russland oder demokratisch wie Italien regiert wird. Der Grund dafür ist simpel: All diese Staaten haben Oberschichten sowie mehr oder minder starke Mittelschichten mit verbreiteten individualistischen Lebensvorstellungen und Lebensgestaltungen.
Das sind die Schichten, die die öffentliche Meinung bestimmen. Deshalb muss das jeweilige politische Personal primär auf diese Schichten Rücksicht nehmen und tut das auch. Diese Entwicklung ist so weit fortgeschritten, dass selbst in der chinesischen Parteidiktatur es niemand in der Spitze wagen würde, eine Pandemie-Opferzahl von 140.000 Menschen, also ca. 0,01 Prozent der Gesamtbevölkerung, für hinnehmbar im Hinblick auf das staatliche Gesamtinteresse zu bezeichnen.
Gefährdete das Virus nur die Unterschichten, würde nicht annähernd so große Sorge vor ihm herrschen wie jetzt. Doch in Gefahr fühlen sich eben auch diejenigen, deren Lebensweise individualistisch-hedonistisch geprägt ist.
In Europa und speziell Deutschland kommt noch das besonders hohe Durchschnittsalter jener materiell in der Regel privilegierten Bevölkerungsgruppe hinzu. Diese will weder vorzeitig das Leben als kostbarstes individuelles Gut noch aber den gewohnten konsumorientierten Lifestyle verlieren. Tröstender Gottesglauben und Hoffnung auf das Jenseits sind in diesem Milieu kaum noch von Bedeutung.
Die heikle Antwort der Politik
Ideale Politik in der Virus-Krise soll folglich dafür sorgen, am besten überhaupt keine, mindestens aber so wenige Individuen wie möglich für das Gemeinwohl zu „opfern“. Andererseits soll jedoch der liebgewonnene Lebensgenuss nicht allzu sehr beschädigt werden. Indessen: Maximierter Schutz vorm Virus und nur glimpfliche Beeinträchtigung der gewohnten individualistisch-hedonistischen Lebensweise – beides zugleich geht selbst in dieser noch recht milden Virus-Pandemie nicht!
Denn die Finanzierung der sozialen Verpflichtungen (Renten, Pensionen, Transferzahlungen) erfordert den vorzeitigen Abbruch eines Zustands, der bei längerer Dauer zunehmende Unruhe und immer größere wirtschaftliche Probleme zu bringen verspricht.
Die allerdings keineswegs ideale, dafür jedoch ehrliche Antwort der Politik auf die anfangs formulierte Tabufrage müsste folglich lauten: „Wenn wir die Lebens- und Wirtschaftsweise unserer Gesellschaft bewahren wollen, dann bleibt ohne wirksame medizinische Gegenmittel kein anderer Weg als ins Risiko zu gehen, also auch menschliche Opfer zu riskieren.“
Selbstverständlich gibt es auch ganz andere Antworten der Politik, die jedoch zu ganz anderen konkreten Folgen führen müssten. Die nächsten Wochen werden erweisen, wie ehrlich sich die Politik der Frage stellt. Zeigen wird sich zudem, ob die Regierten überhaupt ehrliche Antworten schätzen oder lieber salbungsvoll belogen werden wollen.
Wann holen sie dich ab?
Michael Mross im Gespräch mit Christian Hiß: