Unter dem Tarnbegriff "Wiederaufbaufonds" wird defacto eine Transferunion etabliert - unter Umgehung des Vertrags von Maastricht. Die EU wird in Zukunft als Schuldner auftreten und das Geld umverteilen. Das rettet den Euro - vorerst.
von Raimund Brichta
Das Corona-Virus könnte als Lebensretter für den Euro in die Geschichte eingehen. Denn die Corona-Krise hat den Anstoß zur Entwicklung einer Medizin gegeben, die die Überlebenschancen des Euro deutlich erhöht.
Zwar ist es gut möglich, dass diese Medizin auch ohne Corona erfunden worden wäre, aber mit Sicherheit nicht so schnell wie jetzt. Und das schreibe ausgerechnet ich, der den Euro früher oder später auseinanderbrechen sah. Was ist geschehen? Der Reihe nach:
Der Euro hat nach wie vor nur in zwei Szenarien eine Überlebenschance: Entweder es werden die Vereinigten Staaten von Europa geschaffen, die einen dauerhaften Finanztransfer von den starken zu den schwachen Regionen garantieren.
Oder dieser Finanzausgleich findet auch ohne die Gründung der Vereinigten Staaten langfristig statt.
Letzteres geschieht momentan zwar unter tatkräftigem Einsatz der Europäischen Zentralbank. Ob die EZB diese Aufgabe aber alleine dauerhaft stemmen könnte, ist sehr fraglich. Die Vereinigten Staaten, also Variante Nummer 1, sind auf absehbare Zeit ebenfalls unwahrscheinlich, weil kaum ein Mitgliedsland bereit sein dürfte, dafür im nötigen Umfang auf eigene Unabhängigkeit zu verzichten.
Nun haben die EU-Staats- und Regierungschefs in der vergangenen Woche aber einer Mischung aus beiden Szenarien den Weg geebnet. Die Quintessenz aus den Beschlüssen des EU-Gipfels ist nämlich: Die EU benimmt sich wie ein eigener Staat, ohne ein solcher zu sein.
Insbesondere kann die EU künftig eigene Schulden machen und damit ihre Mitglieder zu immer größeren Teilen finanzieren, ohne dass die Einzelstaaten dafür in größerem Ausmaß Souveränität nach Brüssel abgeben müssten.
Nicht einmal jener Vorschlag kam durch, der vorsah, die Ausschüttung der EU-Milliarden von der Bedingung abhängig zu machen, dass die Empfängerländer gewisse Standards der Rechtsstaatlichkeit einhalten. Vor allem Polen und Ungarn hatten sich dagegen erfolgreich gewehrt. Nun können die Länder also schalten und walten wie bisher und kriegen trotzdem Milliarden aus den neuen EU-Töpfen überwiesen.
Das ist eine Win-win-Situation. Denn auf der anderen Seite gewinnt auch die EU-Bürokratie an Einfluss, was ihr gefallen dürfte.
Und das Modell ist ausbaufähig: Die EU betritt zwar als Neuling das internationale Finanzparkett, aber als einer, der von Anfang an äußerst kreditwürdig ist. Ihre Anleihen werden weggehen wie warme Semmeln.
Wenn die EU und die Finanzmärkte erst einmal auf den Geschmack kommen, werden zwangsläufig mehr und mehr solcher Anleihen folgen. Sie werden keine Ausnahme bleiben – schon gar keine, die irgendwann zurückgezahlt wird. Vielmehr werden EU-Schulden früher oder später zur Normalität. Wie die Schulden herkömmlicher Staaten werden sie „ewig“ erhalten bleiben und weiter wachsen.
Kaum auszudenken, was sich damit in Zukunft alles finanzieren lässt – und das ohne die Aufgabe staatlicher Unabhängigkeit.
In einer Art Finanzausgleich lassen sich damit für lange Zeit all jene Schieflagen zwischen den Mitgliedsstaaten glätten, die ansonsten zu einem Auseinanderbrechen des Euro führen würden. (Nebenbei bemerkt, macht die Eurozone nach dem Brexit den weitaus größten Teil der EU aus.)
Damit liegt der Zusammenhalt des Euro nicht mehr allein auf den Schultern der EZB. Diese wird die Gemeinschaftswährung zwar weiterhin mit allen Mitteln verteidigen und über kurz oder lang auch die neuen EU-Anleihen aufkaufen.
Aber mit einem Quasi-Schatzamt der EU bekommt die EZB einen potenten Mitstreiter an ihre Seite. Gemeinsam werden beide den Euro länger am Leben erhalten, als es die EZB alleine vermocht hätte.
Dass die Corona-Krise nur ein Aufhänger und Anlass für die Erfindung dieser Eurorettungsmedizin ist, liegt dabei auf der Hand.
Schon die als „Corona-Wiederaufbau“ deklarierten 750 Milliarden, die – wie gesagt – nur der Anfang sein werden, sollen hauptsächlich in Bereiche fließen, die unter der Corona-Krise herzlich wenig zu leiden haben: in die Digitalisierung, den Umweltschutz und die Infrastruktur. Nicht überall wo Corona-Hilfe draufsteht, ist eben auch Corona-Hilfe drin.
Doch damit nicht genug: Der Euro-Kapitalmarkt wird mit dem neuen potenten Schuldner EU noch attraktiver. Daher dürfte er im Laufe der Zeit zusätzliche Investoren aus aller Welt anlocken, etwa aus dem angelsächsischen Raum. Für den Euro-Wechselkurs wirkt die Rettungsmedizin somit langfristig wie ein Doping. Der jüngste Euro-Hüpfer über 1,17 Dollar dürfte in dieser Hinsicht nur der Anfang gewesen sein.