Wir haben nicht nur einen Aktienmarkt, der ohne Rückhalt der Realität unterwegs ist. Wir haben auch eine gefährliche Konzentration auf wenige Aktien, so dass die Marktbreite der Hausse fehlt.
von Axel Retz
Börsianer greifen der Lage angeblich immer ein bis zwei Quartale vor, weil sie, so glauben sie zumindest selbst, das Gras wachsen hören und sich halt auskennen. Aber die Geschichte belegt, dass diese Selbsteinschätzung verblüffend oft dramatisch falsch ist, sonst hätte es all die Baissen und Kurseinbrüche nicht gegeben, beginnend mit dem Tulpencrash und der South Sea Bubble des 17. und 18. Jahrhunderts bis hin zu „DotCom“-Blase und Subprime-Baisse. Baissen, bei denen man konstatieren musste, dass sie jeder hätte kommen sehen müssen. Dabei kann man als erfahrener Investor eine Faustregel erkennen:
Je mehr Marktteilnehmer sich besonders schlau vorkommen und zugleich sorglos agieren, desto näher kommt das „dicke Ende“. Doch wann es kommt, wie weit der Irrsinn im Vorfeld führen wird und wie dick das dicke Ende dann wird, das kann niemand vorhersagen. Der einfache Grund: Hier geht es um Emotionen. Zunächst um Gier in Verbindung mit dem Ausblenden all dessen, was einem nicht in den Kram passt.
Dann, später, um Verunsicherung, Angst und Panik. Nichts davon lässt sich in Charts oder Statistiken pres sen. Bleibt also nur zu prüfen, wie hoch der Grad der Sorglosigkeit und Ignoranz bereits ist. Aktueller Stand: Er ist hoch. So lässt sich festhalten, dass noch vor drei Monaten viele sicher waren, dass a) eine Rezession ausbleibt und b) die Notenbanken ihre Leitzinsen nicht weiter anheben werden. Heute sehen wir:
Die Rezession ist in Deutschland sowie in der Eurozone da. Und wenn das Statistische Bundesamt aktuell meldet, dass die Zahl der Wohnungsbaugenehmigungen im April ganze 31,9 Prozent (!) unter denen vom April 2022 lag und die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im ersten Quartal 2023 18,2 Prozent höher lag als im Vorjahr, kommt man angesichts eines DAX auf Rekordhoch nicht umhin, die angebliche Fertigkeit der Anleger, die Zukunft vorherzusehen, als Märchen zu entlarven. Im Gegenteil:
Sie preisen ein, was sie sich wünschen, nicht das, was wirklich absehbar ist. Die Wirtschaft schrumpft, die Zinsen werden entsprechend der Aussagen und Andeutungen von US-Notenbank und EZB weiter steigen und Politik, Unternehmen und auch viele Verbraucher verhalten sich nicht so, wie es nötig wäre, um sicher sein zu können, das die Inflation in den Griff kommt. Denn wenn alle alles falsch machen, können die Notenbanken nicht zaubern, dann bleibt ihnen nur, die Daumenschrauben immer fester anzuziehen.
Und am Aktienmarkt? Ungebrochene Hausse bei den Aktien großer Unternehmen. Ja, aber, heißt es dann immer, die großen Unternehmen in den USA und Europa, die werden sich fallenden Unternehmensgewinnen und damit allen Folgen einer Rezession bei hohen Leitzinsen und Inflation entziehen. Sie sind so stark, dass sie Krisen ausnutzen können, um Konkurrenz niederzuringen und den Gewinn auf Kosten von Zulieferern und Kunden immer weiter zu steigern.
Im Prinzip ist das sogar richtig. Aber es ist kein Argument, um für DAX, Dow Jones oder Nasdaq 100 eine Einbahnstraße zu immer neuen Rekorden zu unterstellen. Denn erstens ist dieses „Best Case“-Szenario jetzt eingepreist. Zweitens sind es so immer weniger Aktien, die die Hausse tragen.
Überkaufte Aktien, deren Kurse durch blauäugige Anleger zuletzt noch weiter getrieben wurden, weil die sich vor lauter Gier gar nicht fragen, ob und wann der angebliche „KI-Hype“ welchem Unternehmen wie viel mehr an Umsatz und Gewinnen bringen könnte. Nüchtern betrachtet ist es daher wahrscheinlich, dass viele dieser Zugpferde längst absurd überbewertet sind.
So haben wir nicht nur einen Aktienmarkt, der ohne Rückhalt der Realität unterwegs ist. Wir haben auch eine gefährliche Konzentration auf wenige Aktien, so dass die Marktbreite der Hausse fehlt. Aktuell laufen nur 28 der Nasdaq 100-Aktien besser als der Index selbst. Wie extrem stark diese 28 dafür stiegen müssen, sollte man sich denken können. Dass das den vielen, die nicht wissen, was sie tun, nicht auffällt, ist normal. Was indes nicht davor feit, dass es schiefgeht. Wichtig ist für einen Investor daher: Er muss wissen, wie dünn das Eis ist.