Der Fall Wirecard wird immer bizarrer: Der flüchtige Wirecard-Manager Jan Marsalek tarnte sich angeblich als russischer Priester und arbeitet seit Jahren für russische Geheimdienste - hat u.a. der SPIEGEL herausgefunden.
Der nach Russland geflohene Wirecard-Manager Jan Marsalek nutzte im Untergrund die Identität eines russisch-orthodoxen Priesters. Nach Informationen des SPIEGEL wies sich der mutmaßliche Wirtschaftsverbrecher wohl im September 2020 auf der Krim mit dem Reisepass des Geistlichen Konstantin Bajasow aus. Dem SPIEGEL und seinen Partnern von ZDF, »Standard« und »The Insider« liegt eine Kopie des Passes vor, er enthält ein Foto Marsaleks.
Recherchen in einer russischen Passdatenbank ergaben zudem, dass Bajasows Passakte am 5. September 2020 geändert und der Pass mit der Nummer 763391844 neu ausgestellt wurde. Unter den dort gespeicherten Passbildern befindet sich neben drei Fotos Bajasows auch eine neuere Aufnahme Marsaleks mit Vollbart. In der Akte ist darüber hinaus eine Kontaktperson samt Telefonnummer vermerkt: Jewgenija Kurotschkina. Sie ist eine mutmaßliche Helferin des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB, die laut geleakter Daten regelmäßig mit einem Moskauer Agenten der Behörde reist und telefoniert.
Nach Marsalek gefragt, antwortete Priester Bajasow am Telefon, er könne dazu nichts sagen. Eine schriftliche Anfrage ließ er unbeantwortet. Auch Marsaleks Verteidiger reagierte auf einen umfangreichen Fragenkatalog nicht.
Mehrere Indizien weisen darauf hin, dass Marsalek in Moskau später wohl auch noch die Identität eines Alexander Schmidt annahm, wahrscheinlich auch die eines zweiten russischen Priesters, Witalij Malkin.
Marsalek arbeitet seit Jahren für russische Geheimdienste
Der flüchtige Ex-Wirecard-Manager Jan Marsalek arbeitet offenbar seit Jahren für russische Geheimdienste. Das geht aus gemeinsamen Recherchen von SPIEGEL, ZDF, dem österreichischen »Standard« und der russischen Investigativplattform »The Insider« hervor.
Demnach lernte Marsalek im Sommer 2014 Stanislaw Petlinski kennen, einen ehemaligen Mitarbeiter der Moskauer Präsidialverwaltung mit besten Kontakten in den russischen Sicherheitsapparat. Petlinski sagte den Recherchen zufolge später in kleiner Runde, er habe Marsalek anschließend dem russischen Militärgeheimdienst GRU übergeben. Dem SPIEGEL bestätigte Petlinski, er habe Marsalek »hohen Entscheidungsträgern« in Russland vorgestellt, unter anderem in der Duma. Die Frage, ob er ihn auch Agenten vorgestellt habe, beantwortete er nicht.
Zu den Personen, die Petlinski Marsalek vorstellte, gehört Anatolij Karasi, der als GRU-Offizier in Tschetschenien diente und zwischenzeitlich eine hochrangige Funktion in der berüchtigten Söldnertruppe Wagner hatte. Petlinski bestätigte, 2017 mit Marsalek und Karasi nach Syrien gereist zu sein. Darüber hinaus investierte Marsalek in die russische Söldnerfirma RSB, die später in Libyen im Gebiet des Moskau-freundlichen Generals Chalifa Haftar eingesetzt wurde.
Auch die Nachrichtendienste mehrerer westlicher Staaten gehen davon aus, dass Petlinski seit Jahren im Dienst russischer Geheimdienste steht. Seit Marsaleks Flucht im Jahr 2020 haben russische Behörden wohl dem Ex-Manager dabei geholfen, falsche Identitäten anzunehmen, um so unerkannt in Russland zu leben und zu reisen.
In österreichischen Ermittlungsakten heißt es zudem, Marsalek sei Teil einer »nachrichtendienstlichen Zelle, derer Kapazitäten und Fähigkeiten sich russische Nachrichtendienste bedient« hätten. Auch britische Sicherheitsbehörden werfen dem früheren Manager vor, als Spion Moskaus zu arbeiten. So soll er in London einen Agentenring gesteuert und finanziert haben. Marsaleks Anwalt ließ einen umfangreichen Fragenkatalog des SPIEGEL unbeantwortet.
Kronzeuge im Wirecard-Prozess erhält Personenschutz
Deutsche Behörden haben Personenschutz für den Kronzeugen im Wirecard-Prozess angeordnet. Nach Informationen des SPIEGEL trafen die Staatsanwaltschaft und Polizei in München besondere Sicherheitsvorkehrungen für den ehemaligen Manager Oliver Bellenhaus. Hintergrund sind Veröffentlichungen zu offenbar vom früheren Wirecard-Vorstand Jan Marsalek gesteuerten Agenten. In London wurde vor einigen Monaten ein mutmaßlicher Spionagering ausgehoben, der für Marsalek gearbeitet haben soll.
Offenbar gehen die Behörden davon aus, dass von Marsalek eine Gefahr ausgeht. Außerdem könnten Geschädigte des Wirecard-Skandals sich an Bellenhaus rächen wollen, heißt es in Verfahrenskreisen. Bellenhaus muss meist zweimal die Woche als Angeklagter im Prozess erscheinen. Seit seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft kann man beobachten, wie Bellenhaus von zwei Wagen zum Hochsicherheitsgerichtssaal in München eskortiert wird.
Der frühere Dubai-Statthalter des Skandalkonzerns war am 6. Februar unter Auflagen auf freien Fuß gekommen, er saß seit mehr als drei Jahren in Untersuchungshaft. Im Prozess vor dem Landgericht München hatte Bellenhaus den früheren Vorstandschef Markus Braun, aber auch Ex-Vorstand Jan Marsalek schwer belastet. Braun, der noch immer in Untersuchungshaft sitzt, weist alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe zurück. Marsalek ist seit dem 19. Juni 2020 untergetaucht.
Marsaleks Verteidiger ließ einen umfangreichen Fragenkatalog des SPIEGEL unbeantwortet. Der SPIEGEL hat gemeinsam mit dem ZDF, dem österreichischen »Standard« und der russischen Investigativplattform »The Insider« über Monate zu Jan Marsalek recherchiert.