Großraum Tokio wird stark erhöhter Strahlung ausgesetzt sein – für Jahrzehnte. - Lage am Atomkraftwerk Fukushima völlig ausser Kontrolle. - Das Desaster ist bereits eingetreten – nur das Ausmaß kann noch begrenzt werden. - Reiner Aktionismus bestimmt die TEPCO-Verantwortlichen. - Großraum Tokio droht der Immobiliencrash.
von Martin Stephan, Chefredakteur "Travel Trader"
Die Einschätzung über die Auswirkungen des Atomunglücks bei Fukushima gestaltet sich schwierig. Es gelangen einfach zu wenig neue Information von den durchgeschmolzenen drei Reaktorblöcken und dem einen Auffangbecken an die Öffentlichkeit. Mich erinnert das durchaus an die Ölkatastrophe im Golf von Mexico vor einigen Monaten. Auch da konnte über einen langen Zeitraum der Ölaustritt nicht gestoppt werden, lange Zeit wirkten die Anstrengungen von BP und den Verbündeten gegen die Ölpest regelrecht hilflos - doch dann glückte eine Rettungsvariante und die Austrittsstelle konnte verschlossen werden. Die Aufräumungsarbeiten begannen, die Normalität kehrte zurück.
Parallelen und Divergenzen zur BP-Ölkatastrophe
Offenbar sind breite Investorenkreise der Ansicht, dass es dieses Mal ähnlich ausgeht, eine Region und dann die halbe Welt einer Umweltkatastrophe noch einmal entgehen, die Normalität zurückkehrt. Es ist den Anlegern nicht zu verübeln, diese Variante als die wahrscheinliche anzusehen und sich entsprechend darauf auszurichten. "Rückkehr der Normalität" heißt eben dann, dass Milliardeninvestitionen anstehen und die Geldhähne zumindest in Japan voll aufgedreht bleiben.
Bleibt die Frage: wie wahrscheinlich ist dieses Szenario? Wird TEPCO zu einer BP? Die Antwort kann nur "nein" heißen und die Vereinfachungs-Vorstellungen der Anleger werden schweren Schiffbruch erleiden. Diese Nuklear-Katastrophe wird den Großraum Tokio noch viele Jahre, vermutlich Jahrzehnte beeinträchtigen, wenn nicht sogar prägen. Aktuell ist noch gar nicht abzusehen, welche Reaktionen oder Implikationen sich auf Konjunktur und Kurse in Japan, Asien oder gar weltweit einstellen werden, denn noch haben die Aufräumungsarbeiten gar nicht begonnen, allenfalls die Schadensbegrenzung - doch das reicht nicht.
Reiner Aktionismus bestimmt die TEPCO-Verantwortlichen
Ehrlich gesagt bin ich der Ansicht, dass noch nicht einmal ansatzweise von Schadensbegrenzung geredet werden kann, allenfalls von Aktionismus. Fiel den Verantwortlichen in Tokio tagelang so gut wie gar nichts zur Umgehensweise mit ihren zerstörten Atomreaktoren ein, so hat die Marketingabteilung inzwischen eine andere Strategie erkoren. Mit immer verwegeneren Plänen wird nun die Öffentlichkeit fast täglich bombardiert, will TEPCO zeigen wie man sich kümmert.
Auch diese Strategie erinnert etwas an jene von BP. Das Glück der Briten war allerdings, dass es durchaus Know How außerhalb des eigenen Unternehmens gab, das man anzapfen konnte. Doch diese Nuklearkatastrophe geschieht so erstmals, Erfahrungen gibt es nicht, folglich auch kein Know How - weder in Japan noch im Rest der Welt. Von daher muss davon ausgegangen werden, dass TEPCO mit seiner „trial and error“-Strategie leider kläglich scheitern wird, also noch nicht einmal die Schadensbegrenzung gelingt.
Das Desaster ist bereits eingetreten – nur das Ausmaß kann noch begrenzt werden
Vor einer Woche schilderte ich, wie es wirklich um das Ausmaß der Zerstörung und anhaltenden Schädigung bestellt ist, allein abgeleitet aus bestimmten Wahrscheinlichkeiten aufgrund bekannter Informationen. Man muss keine Experte für Kernkraftwerke sein um die sich von nun an einstellenden hoch wahrscheinlichen Entwicklungen zu prognostizieren – und zwar deshalb nicht, da sich die Quelle der massiven Verseuchung der Umgebung gar nicht mehr im Kernkraftwerk befindet, die Schwermetalle haben die Anlage – oder den Reaktorblock, samt Sicherungssperren – längst verlassen.
Sie können inzwischen fest davon ausgehen, dass sich nicht nur große Mengen an stark radioaktiv verseuchtem Wasser permanent in den Pazifik ergießen, sondern auch, dass aus mindestens zwei Reaktorblöcken Uran- bzw. Plutoniummengen sich ins Erdreich vorgekämpft haben und dort ihr grausamen Werk verrichten.
Natürlich muss dieser Austritt weiterhin so schnell wie möglich begrenzt oder gar gestoppt werden, denn es gilt weiterhin die folgende Kausalkette: Je mehr Kernbrennstoff in die Atmosphäre, in das Meerwasser, ins Erdreich oder ins Grundwasser gelangt, desto umfangreicher ist die Verseuchung, desto großflächiger ist das Land verstrahlt, desto schneller erreicht die Katastrophe die Hauptstadt Tokio, desto höher werden die Strahlungswerte an Land und im Trinkwasser ansteigen.
Das Erdreich bzw. das Trinkwasser hat bereits die Todesspritze erhalten, nun erfolgt die stetige Ausbreitung. „Überflüssiger Weise“ wird weiter Gift injiziert, denn der Patient ist bereits nicht mehr zu retten, es bedarf nur etwas Zeit, bis sich die todbringende Substanz im Körper verteilt hat.
Großraum Tokio wird stark erhöhter Strahlung ausgesetzt sein – für Jahrzehnte
Sowohl die Mengen des ins Erdreich eingedrungenen Urans oder sogar Plutoniums sind derzeit unbekannt, ebenso die Tiefe in die das Gift bereits vorgedrungen ist. Vermutlich haben die Experten, auch bei TEPCO, grobe Vorstellungen über diese beiden Punkte, teilen die nicht gesicherten Erkenntnisse aber noch nicht einmal ansatzweise mit – eine Panik der bisher so gefasst wirkenden Japaner könnte immerhin die Folge sein.
Dabei ist es bloß eine Frage der Zeit, bis über die Luft bzw. das Wasser die Radioaktivität auch nach Tokio gelangt und zwar in steigender Konzentration. Ob diese Höhen erreichen wird, die ein Weiterleben für Menschen im Großraum Tokio noch zumutbar erscheinen lassen, ist völlig unbekannt. Auch deshalb, da viele aktuelle Strahlenrichtwerte nie im praktischen Test an organischem Gewebe ausprobiert wurden.
Es ist daher durchaus denkbar, dass auch eine deutlich höhere Strahlenbelastung als die bisher als zumutbar geltende Menge noch keine ernsthaften Probleme verursacht. Denkbar ist aber auch der umgekehrte Fall, falls verseuchtes Wasser von innen wirken kann. Doch wer will schon dieses Risiko eingehen? Auch nicht die japanische Bevölkerung!
Eine schleichende Abwanderung aus dieser Region Japans ist die bereits jetzt unvermeidliche Folge der Ereignisse. Sollten die Strahlenwerte schnell steigen, kann es auch zu einem Massenexodus kommen. Die Behörden werden die Mega-City vermutlich niemals aufgeben, sondern willkürlich Grenzwerte erhöhen (können), weil es eben keine gesicherten Erkenntnisse gibt, sowie vorbeugende Maßnahmen erfinden um die Bewohner in Sicherheit zu wiegen – dennoch wird die Abwanderung stattfinden und massive Veränderungen für Japan mit sich bringen.
Großraum Tokio droht der Immobiliencrash
Die Immobilienpreise in Tokios Hauptstadt werden jedenfalls fallen - nur ob schnell oder langsam ist die offene Frage. Gewinnen wird zum Beispiel die „neue Hauptstadt“ Osaka und andere Gegenden des lang gezogenen Inselreichs. Das Problem: Die anstehenden Wertverluste für den Großraum Tokio werden so gewaltig sein, dass Japans Banken massiv in Schieflage geraten werden, noch mehr staatliche Gelder benötigt werden um das Desaster zu kaschieren.
Die psychologische Komponente könnte hier übrigens bereits ausreichen um dieses wirtschaftliche Horrorszenario Gestalt annehmen zu lassen – auch wenn sich die volle Katastrophe dann gar nicht einstellt. Stellen Sie sich doch einmal vor, Sie würden in Deutschlands Hauptstadt Berlin leben und der einzige Reaktor in Ostdeutschland bei Greifswald erlebt den GAU. Die messbare Radioaktivität in Berlin steigt schnell an, erreicht die doppelte Dosis der zuvor festgestellten Hintergrundstrahlung, ein Ende der Entwicklung ist unbekannt und daher offen.
Natürlich würde die Bevölkerung wohl nur sehr zögerlich die Stadt verlassen, die meisten Menschen würden bleiben und abwarten – aber: wer würde unter diesen Umständen noch neu nach Berlin übersiedeln wollen? Kaum jemand bringt sich doch ohne Not in so eine Gefahr. Es reichen folglich schon wenige Abwanderer, die ihre Wohnungen und Häuser verkaufen wollen um einen ganzen Markt abzuwerten, dank eines Käuferstreiks.
Nun ist Berlin nicht gleich Tokio, die deutsche Hauptstadt ist mitnichten das Finanzzentrum, auch nicht der Verkehrsknotenpunkt oder der Wirtschaftsmittelpunkt. Folglich sind hier die Preise, auch oder gerade für Immobilien, auch im internationalen Vergleich, lächerlich niedrig. Doch Tokio ist eine ganz andere „Hausnummer“. Vermutlich dürften Politik und Wirtschaft Nippons die Stadt niemals einem Dauerverfall überlassen, denn dieser würde die wirtschaftliche Existenz Japans stark gefährden. Wie und ob dieses anstehende Desaster verhindert werden kann, ist aber völlig offen. Auch, welche Auswirkungen es auf die Kapitalmärkte entfalten würde.
Weiterführende Infos:
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