Der politisch-mediale Komplex zeigt sich enttäuscht. Das deutsche Narrenschiff ist auf der Fahrt nach Jamaika vom Kurs abgekommen, auf ein Riff aufgelaufen und sinkt. Und nun?
DK | Wie die kleinen Kinder im Advent saßen deutsche Qualitätsjournalisten in den letzten Wochen mit glänzenden Augen und in froher Erwartung vor der Parlamentarischen Gesellschaft in Berlin und notierten eifrig auf ihren Wunschzetteln, was das von ihnen favorisierte Jamaika-Bündnis schon Schönes bescherte: Etwas weniger Kohlekraft und im Gegenzug mehr Bildung – das waren doch Erfolge, die sich berichten ließen.
Noch vor dem Nikolaustag entpuppte sich aber ausgerechnet FDP-Chef Christian Lindner als böser Knecht Ruprecht und ließ die schwarz-gelb-grüne Idylle platzen. Das deutsche Narrenschiff ist auf der Fahrt nach Jamaika vom Kurs abgekommen, auf ein Riff aufgelaufen und sinkt.
Entsetzen, Abscheu, Wut, Trauer und Enttäuschung machen sich in der Journaille breit: „Was für ein Schlamassel“, dröhnte der Berliner Rundfunk aus den Lautsprechern und legte gegen Lindner los, als sei der für das Scheitern des letzten Fünf-Jahres-Planes persönlich verantwortlich: „Er hat hingeschmissen, als fast alles in trockenen Tüchern war.“ Ob das stimmt, mag dahingestellt bleiben – es ist sogar angesichts der vielen offenen Punkte sehr fraglich.
Weinerlich kommentierte Systemschreiber Stephan-Andreas Casdorff, Chefredakteur des regierungsnahen Berliner Tagesspiegel: „Was man gerne möchte? Einen Aufstand der Anständigen, die nicht wollen, dass Deutschland auf dem Weg nach Jamaika am Riff der Eigensinnigkeiten Schaden nimmt.“
Diese beiden Stellungnahmen machen klar, was Jamaika für den politisch-medialen Komplex wirklich ist: Ein Lebenselixier, das für den Marsch ins grüne Reich kräftigt, ein Heilsversprechen für eine bessere Welt mit mehr Bildung und weniger Dieselmotoren.
Dass Lindner den Schluck aus der Pulle nicht wollte, ist ihm hoch anzurechnen. Es zeigt sich, dass das Land in der Not doch noch auf Hilfe vertrauen kann – und sei es durch einen wie Lindner, dem man früher nicht einmal die Leitung einer Pommesbude überantwortet hätte.
Wie so oft, hilft ein Blick ins Ausland und dortige Zeitungen, um das Ausmaß des Scheiterns von Jamaika zu begreifen. So lesen wir in der schwedischen Zeitung Dagens Nyheter über Merkel: „Wenn Deutschland Neuwahlen abhält, dann möglicherweise ohne sie in der Hauptrolle.
Nach der Wahl vor zwei Monaten, bei der die CDU das schlechteste Ergebnis seit sechs Jahrzehnten einfuhr, ist ihre Autorität intern und extern geschwächt. … Seit Langem schon taucht der Kosename Mutti in der Debatte höchstens noch sarkastisch auf. … Diese dramatische Nacht könnte der Anfang vom Ende der Ära Merkel sein.“
Genauso sieht es die Neue Zürcher Zeitung: „Das System Merkel ist gescheitert: Die Kanzlerin schafft es erstmals nicht mehr, durch stille Diplomatie und politischen Pragmatismus eine Machtbasis für sich zu schaffen. Das Land sollte jetzt in aller Ruhe neue Wege gehen.“
Mit wachsender Distanz wächst der Blick für das Wesentliche. Daher fiel uns eine Stimme aus Moskau auf. Für den russischen Außenpolitiker Leonid Sluzi ist das Jamaika-Aus auch ein Zeichen für ein kränkelndes Europa. „Die Krise in den Verhandlungen zur Koalition in einem Land, das die Lokomotive der Europäischen Union ist, zeigt eindeutig einen fieberhaften Trend im gesamten Europa“ – so der Vorsitzende des Außenausschusses in der russischen Duma, der Deutschland „in einer Sackgasse“ sieht.
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